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Ein Gefühl für die Vergangenheit

Maria-Xenia Hardt
  • Do, 19. April 2012
    Neues für Schüler

Was fasziniert junge Menschen daran, mit Haut und Haaren ins Mittelalter einzutauchen? Eine Spurensuche.

  | Foto: Janos Ruf
Foto: Janos Ruf

Wir haben doch alle einmal mit unseren Holzschwertern um Ruhm und Ehre gekämpft, sind auf unseren Steckenpferden in den Sonnenuntergang geritten und haben am Lagerfeuer unsere Heldengeschichten erzählt. Wir waren doch alle mal Ritter aus Leidenschaft. Benjamin Barth und Martin Brauer sind es heute noch.

Irgendwann haben wir unsere Steckenpferde gegen Bürostühle eingetauscht und die Holzschwerter gegen Kugelschreiber, die Sonne sehen wir nur noch auf dem Desktophintergrund untergehen und dabei freuen wir uns auf die Fußbodenheizung daheim. Statt Helden werden wir Religionslehrerinnen und Programmierer, Müllwerker und Cutter, Lageristen und Elektriker. Aber in unserer Mitte sitzen einige, die nach Feierabend und am Wochenende noch immer die Schwerter zücken.

"Das Ritterspielen ist bei mir vielleicht einfach hängen geblieben", sagt Benjamin Barth (28), Elektriker. Er sitzt in einfacher Stoffkleidung auf einer Holzbank auf dem Freiburger Mundenhof, über dem Lagerfeuer wird Wasser erhitzt, hinter ihm läuft ein Ritter in voller Montur vorbei. Mit seinen Kollegen vom "Bunten Haufen" lagert Benjamin an einigen Wochenenden im Jahr auf Mittelaltermärkten und -festen. Wie heute auf dem Mundenhof. Sie erklären den Besuchern – vor allem Kindern – ihre Waffen und führen einstudierte Schaukämpfe vor, die sie einmal in der Woche trainieren. "Manche Leute wundern sich, was ich am Mittelalter finde", sagt Benjamin, "aber seit ich vor ungefähr viereinhalb Jahren das erste Mal als Besucher auf so einem Markt war, hat mich die Zeit nicht mehr losgelassen." Vor zweieinhalb Jahren ist er dann dem Bunten Haufen beigetreten, einer Schaukampftruppe in Freiburg. Zeitliche Beschränkungen auf ein bestimmtes Jahrhundert gibt es in der Gruppe nicht, bunt soll es eben sein. "Man sucht sich einen Charakter, probiert Dinge aus", erzählt Benjamin. "Ich hab geschaut, welche Kleidung mir gefällt und spiele im Moment einen Räuber, es entwickelt sich gerade etwas in Richtung Wikinger."

In der mittelalterlichen Realität wäre Benjamin in dieser Rolle wohl eher selten einem angelsächsischen Landadeligen, einem sogenannten "than", begegnet. Und wenn, dann wäre es kein freundschaftliches Treffen gewesen, und der Landadelige hätte erst recht nicht gefragt, ob der Kaffee schon fertig ist. "In manchen Dingen", sagt Martin Brauer (28), Lagerist, und nimmt aus Ermangelung des koffeinhaltigen Heißgetränks einen Schluck Apfelsaftschorle aus seinem Rinderhorn, "in manchen Dingen machen wir es uns schon bequem. Im richtigen Mittelalter würden die meisten von uns wahrscheinlich gar nicht überleben. Die Klamotten waren damals nicht so gut und das größte Problem wäre die Frage: Wie werde ich satt?"

Dass das Mittelalter keine rosige Zeit war, ist den Freizeitrittern bewusst. Manche Mittelaltergruppen legen mehr Wert darauf, dass wirklich alle Details authentisch sind. Andere wiederum vermischen tatsächlich Geschehenes mit Fantasy und Science Fiction, entfliehen der modernen Realität so noch ein Stück weiter. Mit historischem Rahmen oder ohne: Das sogenannte "Reenactment" anderer Zeiten und Welten erfreut sich großer Beliebtheit. Schätzungen zufolge sind rund 350 000 Menschen in Deutschland mehr oder weniger aktiv in der Szene unterwegs. Menschen aus allen Altersklassen und Berufsgruppen erwecken das Mittelalter zum Leben. "Man trifft sehr unterschiedliche Leute und ist trotzdem verbunden durch das gemeinsame Hobby. Das schafft eine sehr familiäre Atmosphäre", sagt Benjamin. Das ist ihnen wichtiger als die Verbannung jeglicher Spuren des 21. Jahrhunderts: Beim Bunten Haufen gibt es Milch aus Tetrapacks und Gummibärchen (beides unter Tüchern versteckt) sowie wetterfeste Kleidung.

"Wenn wir es wirklich machen wollten wie im Mittelalter, würden wir uns eine Woche lang nicht duschen", sagt Benjamin, "das käme auf den Märkten eher schlecht an. Und es dürfte in unserem Reihen auch kaum Leute über 35 geben."
Es geht ihnen darum, ein authentisches, echtes Gefühl für das Mittelalter zu schaffen. Elektrisches Licht gibt es nicht, stattdessen dient Feuer als Licht- und Wärmequelle. "Wenn abends ein Feuer neben dem anderen flackert", erzählt Benjamin, "dann hat das schon was ganz eigenes."

Einen Fernseher vermisst dann niemand, im Gegenteil. "Das ist das Letzte, was ich mitnehmen wollte", sagt Martin, "stattdessen sitzen wir abends einfach ums Feuer und reden. So was geht heute oft verloren. Das Leben im Mittelalter war naturverbundener, sicherlich auch entbehrungsreicher, aber eben auch wahrhaftiger. Da fühle ich mich wohler."

Auch im Alltag der beiden hat das Mittelalter Spuren hinterlassen: Schmuck und Frisur bleiben. Martin trinkt auch zu Hause nur aus Tongefäßen oder eben seinem Rinderhorn, der Geschmack ist ein ganz spezieller. In Benjamins Wohnung hängen Schwerter an der Wand und Felle an der Decke. Abends liest er oft über vergangene Jahrhunderte. Pro Woche verbringt er insgesamt gut und gerne acht Stunden mit Lektüre und Schaukampftraining.

Die Wochenenden auf den Mittelaltermärkten sind natürlich die Highlights des Ganzen, Fluchten aus dem 21. Jahrhundert in eine langsamere Zeit – der Münsterbau hat damals immerhin 300 Jahre gedauert. Solche Lager, sagt Benjamin, seien eine Art Ferienfreizeit für große Kinder. "Wenn man anfängt aufzubauen, taucht man schon in eine andere Welt ein. Klar ist das auch anstrengend, bis alles steht haben zehn Leute bis zu sechs Stunden hart gearbeitet."

Aber wenn dann die Besucher kommen und sich für die Gewandungen und Waffen interessieren wenn bei den Schaukämpfen die bis zu vier Kilo schweren Schwerter durch die Luft schwingen und die Zuschauer den Atem anhalten, obwohl alles nur Theater ist – dann hat sich die Mühe gelohnt. Zur Stärkung gibt es eine über offenem Feuer gekochte Suppe, vielleicht sogar einen Kaffee dazu.

Dann werden die Schwerter verstaut, die Sonne geht in echt unter, nicht auf einem Bildschirm. Vielleicht wiehert in der Ferne ein Pferd. Und wenn alle Besucher nach Hause gegangen sind, zurück zu ihren Fußbodenheizungen, sitzen Benjamin, Martin und die anderen noch um ihr Lagerfeuer und erzählen sich die Heldengeschichten des Tages.

Ressort: Neues für Schüler

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 19. April 2012: PDF-Version herunterladen

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