Oktober in der Stadt

Ein obdachloses Mädchen, ein Mann mit Hund – und die kleine Emma / Eine Kurzgeschichte von Luisa C. Mehrgardt.  

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„Verfluchte Stadt, verfluchtes Leben“, denkt Ronja. Foto: Adobe.com
Der alte Mann ging wie immer mit seinem Dackel an Ronja vorbei. Wie immer grüßte sie nicht zurück. Sie hasste es, Menschen zu grüßen. All diese vielen Menschen, die sie meistens sowieso übersahen oder, wenn sie sie bemerkten, ihr mitleidige oder abschätzige Blicke zuwarfen. Es war ihr unangenehm, ihre Verletzlichkeit zu zeigen, aber auch die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Betteln. Allein das Wort hörte sich schon so geringschätzig an. Ronja warf einen Blick in ihren Schuhkarton. Mehrere Münzen, die vielleicht ausreichen würden, einen billigen Schal zu kaufen.

Ein graubraunes, totes Blatt wirbelte von der Kastanie, unter der sie stand, und blieb in ihren wirren braunen Haaren hängen. Es war wieder einmal Zeit für einen Abstecher in das Einkaufszentrum.
Nachdem sie ihren Schuhkarton in den ausgeblichenen, fransigen Rucksack gequetscht hatte, lief sie zügig auf das Gebäude zu. Das Wichtigste war, normal auszusehen, das hatte sie in mittlerweile vier Monaten ohne Zuhause gelernt. Deswegen musste sie immer auf die Reaktionen der Leute achten, die ihr entgegenkamen.

Heute glotzte keiner, keiner nannte sie Penner und keiner hatte vor Mitleid Tränen in den Augen, was wohl auch daran lag, dass heute alle sich selbst bemitleideten: Ein schneidend kalter Wind pfiff durch die Fußgängerzone und biss in jedes Stückchen Haut, das nicht unter dicken Jacken vergraben war. Es war der erste Kälteeinbruch dieses Jahr und der erste in Ronjas neuem Leben. Oktober. In der Stadt.

Die Bäume hatten alle

nur gerade Stämme
Emma liebte bunte Blätter. Zu Hause, bei Oma und Opa, hatte sie jeden Herbst alle feuerfarbenen Blätter aufgesammelt und Bilder damit geklebt. Jetzt war sie zwar nicht mehr zu Hause, aber sie wollte Mama unbedingt zeigen, dass sie auch hier alleine Blätter sammeln konnte. Denn eigentlich durfte sie das hohe Haus mit den vielen Menschen gar nicht verlassen, weil Mama gesagt hatte, sie könnte von Autos überfahren werden. Emma fand, sie sollte sie beruhigen, denn auf die Seite springen kann man ja lernen.

Also hüpfte sie durch die Stadt und versuchte erst mal, vor allen Mülleimern, Laternenmasten und Baumstämmen auszuweichen, weil sie erst später mit Autos üben wollte. Bei den Bäumen funktionierte es nicht so gut, da lagen nämlich orangene, gelbe und rote Blätter, die Emma für ihre Bilder mitnehmen musste.

Die Bäume hatten alle nur gerade Stämme, ganz anders als die zu Hause, sodass sie nicht klettern konnte. Das war aber auch das einzig Blöde an der Stadt. Sie sah an jeder Ecke Neues, was sie nicht kannte, tanzende Leute zum Beispiel oder kleine Wohnwagen, an deren Fenstern Leute standen, die Pommes und Würstchen an Menschen verteilten. Außerdem fuhren andauernd riesige rote Busse vorbei, und ein junges Mädchen stand an einer Treppe, die in den Boden führte, und verteilte buntes Papier. Leider konnte Emma nicht sehen, wohin die Treppe führte, weil andauernd Menschen aus dem Boden stiegen und sie zur Seite schoben.

Deswegen gab sie auf und schlängelte sich zwischen ein paar lustigeren Menschen hindurch: Einer trank Qualm aus einem Papierröllchen wie Papa, bevor er ins Krankenhaus gekommen war, ein anderer sah aus wie ein Clown, und ein Mädchen hatte blaue Haare. Dann kam da noch ein alter Mann mit Hund. Hunde fand sie schon immer toll, weil sie so weich waren, anders als Eidechsen zum Beispiel.

"Hallo", sagte sie deshalb zu dem Mann. Er nickte, obwohl sie gar nichts gefragt hatte. Das mochte sie, Mama zum Beispiel schüttelte immer den Kopf. "Wer bist du?" Der Mann lächelte und zeigte dabei seine gelben Zähne. Vielleicht hatte er ja gerade Orangensaft getrunken. "Ich bin Karl-Heinz, und das ist Kunibert. Er ist ein Dackel." Emma kniete sich hin, wobei sie nicht vergaß zu nicken wie der Mann, und versuchte, Kunibert zu streicheln. Sein Fell war gar nicht so weich, aber es hatte silbern gesprenkelte Stellen. "Wieso glitzert er? Ist er ein Zauberhund?" Der Mann nickte. "Ein Zauberhund, ja. Er ist alt geworden, mein Kunibert."

Emma stand wieder auf und dachte auch daran, zu nicken. "Ich muss jetzt gehen, weil ich lernen will, aufzupassen." Der Mann nickte. "Das schenke ich Kunibert." Sie hielt ein Blatt hoch, das so gelb war wie die Zähne des Mannes. "Das kannst du ihm zu seinem Geburtstag geben, wenn er noch älter wird." Der Mann nickte, und Emma hüpfte weiter.

Ronja schaute sich vorsichtig um. Niemand war in der Nähe des Regals mit den Deos. Sie schlenderte gezwungen langsam zu dem Regal hin, obwohl ihr wild klopfendes Herz schrie, sie solle rennen. Dabei war das, was sie machte, ja nicht mal illegal. Auch diesmal entschied sie sich für das Wasserlilien-Deo und griff nach dem Tester. Zwei kurze Blicke um die Ecke. Niemand. Schnell nebelte sie sich mit dem Deo ein.

Gerade hatte sie den Tester zurückgestellt, hörte sie Schritte. Nicht rennen, befahl sie sich. Langsam drehte sie sich um und lief mit einem falschen Lächeln auf dem Gesicht zum Ausgang. Ja, das war definitiv das, was sie am meisten vermisste, seit ihre Eltern sie vor die Tür gesetzt hatten: jeden Tag duschen zu können und sich sauber zu fühlen. Mit allem kam sie klar, der Suche nach Essen, der Suche nach einem Schlafplatz, denn Unsicherheit gehört eben zur Freiheit. Aber ein Leben ohne Sauberkeit – mit dreckiger Kleidung, dreckiger Stadtluft, dreckigen Gehsteigen – das war gewöhnungsbedürftig.
Sie kämpfte sich wieder unter den drückenden, grauen Wolken durch den beißenden Wind Richtung Kleidungsgeschäft. Da sah sie den alten Mann. Er kam ohne Dackel.

Emma beschloss, dass sie jetzt umkehren könnte. Sie hatte noch sehr viele Blätter aufgehoben und sehr viele lustige Menschen gesehen, aber langsam bekam sie Hunger, weil in dem Haus mit orangenen Fensterläden irgendetwas nach Spaghetti mit Tomatensoße duftete. Durch das Fenster konnte sie sehen, dass drei Menschen am Tisch saßen: eine Frau, die so war wie Mama, also braunhaarig, dünn und mit roten Lippen, ein kleines Baby, das so aussah wie ihre Puppe Gina, und ein Mädchen, das aber älter war als sie, bestimmt durfte sie schon Auto fahren.

Plötzlich kam ein lachender Mann herein, mit einem dampfenden Topf. Der war so wie Papa. Emma fühlte sich auf einmal leer, aber es war ein anderes Leer als Hunger. Ihr Papa kam nicht mehr lachend zu ihr und Mama. Er hatte im Krankenhaus bleiben wollen. Jedenfalls hatte Mama, als Emma sie gefragt hatte, wo Papa ist, gesagt, er kommt nicht mehr zurück. Emma verstand das zwar nicht, aber vielleicht mochte er das Krankenhaus, weil er da nicht arbeiten musste. Danach war Mama auch für mehrere Wochen in die Ferien gefahren. Als sie zurückkam, waren sie in die Stadt gefahren – und dort geblieben. Aber das machte nichts, außer dass Mama immer ganz lang arbeitete.

Emma drehte sich um und ging in die Richtung, in der das große Haus ungefähr stehen musste. Sie hüpfte und bemerkte, dass sie ganz vergessen hatte, das Ausweichen zu üben. Gerade wollte sie sich auf die Straße stellen, als sie den Mann mit den Orangenzähnen entdeckte. Kunibert, der Zauberdackel, war nicht da. "Hallo", sagte Emma, als er sie endlich mit seinen schlurfenden Schritten erreicht hatte. Der Mann nickte. "Wo ist Kunibert?" Der Mann deutete auf die weiche Wolkendecke. "Im Himmel."

"Wie schön! Da ist jetzt Sonne, sagt Mama immer. Bestimmt liegt Kunibert auf ganz weichen Wolken wie Mama am Strand, als wir mal an so einem riesigen See waren, um braun zu werden! Wenn er zurückkommt, sind ganz sicher seine Glitzerstellen weg, bestimmt, aber er wird ganz zufrieden sein und sich hübsch genug fühlen, um ins Schwimmbad zu gehen wie Mama. Findest du das nicht auch toll?"

Es waren leichte Tapser wie von einem Kind

Der Mann nickte, aber er lächelte nicht und zeigte auch nicht seine Orangenzähne. "Wann kommt er denn wieder?" "Er bleibt da. Er wartet da auf mich, aber er ist ja ein braver Hund." Der Mann nickte. "Jaja." Seine Mundwinkel bogen sich ein bisschen nach oben. "Wenn du ihn dann besuchst, sag ihm viele Grüße." Das sagte Mama auch immer, und Emma fühlte sich richtig groß. "Ich muss nämlich jetzt gehen und aufpassen lernen." Der Mann nickte. Bevor Emma weiterhüpfte, vergaß sie nicht, auch zu nicken.

Ronja saß wütend auf ihrem alten, fransigen Rucksack und versuchte, nicht loszuheulen. Die Verkäuferin hatte sie einfach aus dem Laden geschoben. Wortlos. Dabei hatte sie vorher noch ihre Haare glattgestrichen und Lippenstift-Tester aufgetragen. Sie war sich sogar annehmbar vorgekommen. Der Wind biss in ihre schutzlose Haut, und in Gedanken verfluchte Ronja die Stadt. Die Stadt und ihr Leben.

Schritte näherten sich, aber es waren keine erwachsenen Schritte. Es waren kleine, leichte Tapser wie von einem Kind. Ronja hob den Kopf, obwohl sie kleine Kinder hasste. Sie quengelten, schrien, waren gewalttätig und egoistisch. "Hallo", sagte das kleine Mädchen. "Wer bist du?" Ronja antwortete mürrisch. "Ronja." Das Mädchen nickte wie ein alter Mann. Seltsam. "Wieso bist du traurig?" Ronja runzelte die Stirn. "Ich bin nicht traurig, und wenn, dann ist der Oktober schuld. Oder die Stadt." "Wieso denn? Magst du es denn nicht, bunte Blätter zu sammeln?" "Die sind nicht bunt, die sind tot. Wie alles hier." "Nein, das glaub ich dir nicht, sie bewegen sich ja." Das Mädchen öffnete seine kleine Hand, in der viele, bunte Blätter lagen. "Außerdem habe ich heute ganz viele Menschen gesehen, die waren nicht tot."

Über Ronjas Gesicht huschte ein Lächeln, und diesmal hielt sie es sogar dort fest. "Ich schenk dir eins, dann siehst du, dass es sich bewegt." Das Mädchen drückte Ronja ein feuerrotes Blatt in die Hand. Ronja betrachtete es kurz, dann warf sie es dem Wind zu, der das bunte Blatt durch die graue Stadt trug. "Du hast Recht, es bewegt sich."

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