Zisch-Schreibwettbewerb 2023
Passwort: Einhorn
bzt
Fr, 24. November 2023, 14:10 Uhr
Schreibwettbewerb
Von Luise Willesch, Klasse 4b, Adolf-Gänshirt-Schule (Eichstetten)
Einer von drei Gewinner-Texten des Zisch-Schreibwettbewerbes im Herbst 2023
Oma Heidi lebte schon seit vielen Jahren alleine in der Freiburger Innenstadt. Ihr Mann war vor vielen Jahren gestorben. Das machte Heidi immer noch sehr traurig. Doch zum Glück hatte sie ein Hobby. Heidi hatte ihr Leben lang als Hausfrau gearbeitet, dabei wollte sie immer eine Journalistin sein. Sie hatte sich schon oft bei der Zeitung beworben, aber ihre Bewerbungen wurden immer abgelehnt, weil sie keine Ausbildung hatte, und wer stellt schon eine 87-jährige Oma ein?
Ihre größte Leidenschaft war es, Geschichten über die Natur zu schreiben. Dabei nutzte sie ihr Teleskop, welches sie mal bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte. Stundenlang konnte Heidi die strahlenden Sterne bewundern, die verschiedenen Mondphasen und das magische Schimmern der Milchstraße. Mit ihrer Bewunderung und ihrer großen Phantasie entstanden die aufregendsten Geschichten für Menschen in jedem Alter. Leider konnte Heidi ihre Geschichten niemanden zeigen. Es gab ja niemanden, dem sie sie hätte zeigen können. Sie war ganz alleine.
Es ist Dienstag Abend. Dienstags bestellt Heidi immer beim Chinesen nebenan. Das ist ein schönes Ritual. Nur eine halbe Stunde nach der Bestellung klingelt es bei Heidi an der Tür. Der Lieferbote reicht ihr die 37 (Gebratene Nudeln mit Hühnerfleisch und Gemüse). Heidi bezahlt, setzt sich gemütlich an ihren Platz am Esstisch und packt die Tüte aus.
Hoppla, da fällt ihr ein Glückskeks auf den Schoß. "Das ist aber nett, so ein lieber Gruß aus der Küche", murmelt Heidi und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Den Keks hebt sie sich bis zum Schluss auf und vergisst ihn dann erstmal wieder. Erst als sie am Teleskop in den Nachthimmel schaut, fällt er ihr wieder ein. Sie geht zurück zum Tisch, öffnet die Verpackung, bricht den Keks und zieht den kleinen Zettel raus. Ohne Lesebrille kann sie erstmal nichts lesen – viel zu klein geschrieben – aber dann liest sie: Erfülle dir deine Träume – du kannst ALLES schaffen. "So ein Quatsch", sagt Heidi laut. Als ob ihre Träume jemals in Erfüllung gehen. Sie zerknüllt den Zettel und steckt ihn in die Hosentasche.
Doch der Gedanke an den Glückskeksspruch lässt sie nicht mehr los. Hatte sie wirklich alles versucht, um ihre Träume wahr werden zu lassen? Ist man mit 87 Jahren wirklich zu alt, um noch Träume zu haben? Und dann hat Heidi auf einmal eine gute Idee.
In ihrer obersten Schreibtischschublade hat Heidi noch all ihre selbstgeschrieben Naturgeschichten gesammelt.
"Wann, wenn nicht jetzt?!", ruft Heidi laut und holt den Stapel heraus. Sie wird eine dieser wundervollen Geschichten der Badischen Zeitung in den Briefkasten einwerfen, und zwar ohne Namen. Dann weiß ja keiner, von wem die Geschichte ist. Und auch nicht ob derjenige Hausfrau oder Journalist ist, und auch nicht das Alter.
So ganz ohne Unterschrift sieht es nicht schön aus. Heidi überlegt. Dann fällt ihr Blick auf den Glückskeks und seine Verpackung. Auf dem Zellophan ist ein kleines Einhorn abgedruckt. Heidi schmunzelt. Sie braucht ein Wunder und ein Einhorn ist doch etwas Wundervolles und Geheimnisvolles. Das ist es! Sie unterzeichnet ihre Geschichte mit "EINHORN". Das wird ihr Passwort für die Erfüllung ihres Traumes.
Jetzt nur nicht den Mut verlieren, denkt sich Heidi, zieht ihre Jacke an, schnappt sich den Rollator und ihre Geschichte und läuft zur Badischen Zeitung. Im Dunkeln der Nacht wirft sie die Geschichte in den Briefkasten.
Drei Tage danach kann sie ihr Glück fast nicht fassen. Ihre Geschichte wurde in der Zeitung abgedruckt mit einem Kommentar der Geschäftsleitung, die begeistert von der Phantasie dieser besonderen Geschichte schwärmt. Heidi fühlt sich stolz, dass ihre Geschichte gedruckt wurde und so ein tolles Lob bekommt. Gleich beschließt sie, nachts noch weitere Geschichten einzuwerfen, genug hat sie ja.
Es funktioniert, keiner hat sie gesehen und Heidi kann es kaum erwarten, an den nächsten Tagen die Zeitung aufzuschlagen. Die Artikel von "Einhorn" werden weiterhin gedruckt und es gibt begeisterte Leserbriefe. Gefühlt die ganze Welt will wissen, wer diese Geschichten geschrieben hat. Heidi hält sich lieber noch versteckt, weil sie Angst hat, dass die Begeisterung verschwindet, wenn die Leute wissen, dass sie nur die alte Heidi aus Freiburg ist.
In der Woche darauf liest Heidi, dass das "Einhorn" sich bei der Zeitung gemeldet hat und mit einem Interview abgedruckt wurde. "Das gibt es doch nicht!", ruft Heidi wütend. "Sich einfach in meine Angelegenheiten einzumischen und mein Lob zu kassieren geht doch gar nicht! Ich muss etwas unternehmen!"
In dieser Nacht bringt Heidi eine weitere Geschichte zum Briefkasten der Badischen Zeitung. Doch diesmal ist der Brief mit ihrem Namen und Adresse, ihrem Alter und ihrem Beruf unterschrieben. Gespannt geht sie nach Hause. Und siehe da, schon am nächsten Tag klingelt es an Heidis Tür. Sie kann ihren Augen kaum trauen – der Geschäftsführer der Badischen Zeitung steht vor ihrer Tür mit einem riesigen Blumenstrauß.
Sie ist vor Freude wie gelähmt und Freudentränen laufen ihr über die Wangen, Sie bittet ihn hinein…
Am Folgetag ist eine ganze Seite in der Zeitung nur über Heidi. "Fake News mit Happy End" ist die große Überschrift. Die Badische Zeitung entschuldigt sich für die Falschmeldung und stellt klar, dass Heidi das "Einhorn" und ein Naturtalent ist. Sie darf ab sofort als freie Journalistin bei der Zeitung arbeiten. Endlich kann sie anderen Leuten Freude mit ihren Geschichten machen und ist nicht mehr so viel alleine.