Teil eines Forschungsprojekts
Bistum Speyer: Missbrauch "strukturell" - 150 Beschuldigte
Vertuscht, verdrängt, verschwiegen: Eine Studie offenbart erschreckenden Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Speyer. Wie reagieren Betroffene - und was sagt die Kirche?
dpa
Do, 8. Mai 2025, 15:00 Uhr
Baden-Württemberg
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Quelle: Deutsche Presse-Agentur (dpa).
Die BZ-Redaktion hat diese Meldung nicht redaktionell bearbeitet.
Mannheim/Speyer (dpa) - Die 473 Seiten starke Studie über sexuellen Missbrauch im Bistum Speyer lässt ihren Autoren zufolge keinen Zweifel an strukturellen Fehlern in dem katholischen Bistum und der Skrupellosigkeit der Täter und Täterinnen. Derzeit geht das Bistum bei den Beschuldigten von 109 Geistlichen sowie 41 Nichtklerikerinnen und Nichtklerikern aus. Zwar sollen detaillierte Fallstudien erst in einem zweiten Teil der Analyse genannt werden. Aber die bisherigen Erkenntnisse offenbaren bereits die Dimension der lange unbeachteten, ungeahnten und ungehinderten Verbrechen.
Wer hat die Studie erstellt und warum?
Die Studie "Sexueller Missbrauch im Bistum Speyer durch katholische Priester, Diakone, Ordensangehörige und Mitarbeitende des Bistums (ab 1946)" wird von der Historikerin Prof. Sylvia Schraut und ihrem Team an der Universität Mannheim erstellt. Die Analyse wurde im April 2023 von einer Unabhängigen Kommission initiiert und ist auf vier Jahre angelegt. In der zeitlichen Mitte wurde nun ein erster Teil veröffentlicht. Finanziert wird die Studie vom Bistum.
Über welche Dimension von Verbrechen reden wir?
Unklar. Schraut spricht von einer "Riesendunkelziffer". Die Zahl der Betroffenen, die sich beim Rechtsamt gemeldet hätten und das Bistum Speyer beträfen, liege bei unter 300. Bis heute wurden dem Bistum zufolge rund 3,6 Millionen Euro inklusive Therapiekosten an 96 Betroffene gezahlt. Rund die Hälfte der Taten fand demnach in den 1950er und 1960er Jahren statt - oft in kirchlichen Heimen für Kinder und Jugendliche, auch durch Nonnen oder Erzieherinnen. Etwa die Hälfte der Fälle wurde erst nach dem Jahr 2000 bekannt.
Für Entsetzen hatten besonders die Vorwürfe von Betroffenen gegen einen inzwischen gestorbenen Generalvikar gesorgt. Der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann hatte den Fall selbst öffentlich gemacht. Demnach soll es in dem im Jahr 2000 geschlossenen Kinderheim in der Speyerer Engelsgasse nahe dem Dom wiederholt zu schwerem sexuellem Missbrauch gekommen sein.
Was sagt die Studie über Täter und Täterinnen?
Schraut zufolge besitzen Beschuldigte häufig Kriegserfahrung und eine autoritäre Grundeinstellung. Auffällig seien vor allem die Generationen, die in Zeiten großen gesellschaftlichen Wandels ihr Amt ausgeübt hätten: Zwei Drittel der 109 beschuldigten Geistlichen seien vor 1920 geboren. "Unabhängig von den individuellen Lebenswegen", heißt es, hätten viele Beschuldigte "bis Ende des Zweiten Weltkriegs Gewalt verübt oder erlitten oder waren mit ihr vertraut".
Was ist eine zentrale Erkenntnis aus der Studie?
Sexueller Machtmissbrauch sei früher als individuelles Fehlverhalten einzelner Geistlicher interpretiert worden, sagt die Historikerin. Die Kirche habe die Beschuldigten entweder individuell bestraft - oder sie sogar vor Anschuldigungen geschützt. "Strukturelle Probleme innerhalb der Kirche wurden dabei nicht erkannt beziehungsweise ignoriert. Die kirchlichen Strukturen haben somit die Straftaten maßgeblich begünstigt."
Gründe dafür seien mangelnde Kontrolle über Ordensangehörige, unklare Zuständigkeiten sowie ein autoritär geprägtes Amts- und Menschenbild innerhalb der Kirche gewesen. "Die Fürsorge für Priester war größer als die Fürsorge für Betroffene."
Wie sind die Autorinnen und Autoren vorgegangen?
Die Kirche habe ihr unbegrenzten Zugang zu den Akten gewährt, sagt Schraut. Für die Studie analysierte sie unter anderem die Lebensdaten aller rund 1.313 Geistlichen, die seit 1946 im Bistum tätig waren. Allerdings würde es die Studie ohne die Aussage von Betroffenen gar nicht geben, betont sie. Ein Sonderbestand über Missbrauch sei im Archiv nicht gefunden worden.
Was sagt das Bistum zur Studie?
Generalvikar Markus Magin sagte in einer ersten Reaktion, die Studie helfe dem Bistum beim Lernprozess. "Es ist das erklärte Ziel, dass so etwas nie mehr vorkommt. Kirche muss ein sicherer Ort sein." Bischof Karl-Heinz Wiesemann hatte im vergangenen Jahr gesagt: "Wenn Sie mit Betroffenen sprechen, die sich teils erst nach Jahrzehnten ihren Verwundungen stellen können, und dann auch noch im Gespräch mit einem Vertreter der Institution, in der dieses unglaubliche Unrecht geschehen ist: Das verändert einen und lässt einen das Leid viel unmittelbarer mit den Augen von Betroffenen sehen."
Ausführlich will das Bistum an diesem Freitag (9.5.) Stellung nehmen. Das Bistum umfasst die Pfalz und den Saarpfalz-Kreis mit rund 1,57 Millionen Menschen - davon rund 437.000 Katholikinnen und Katholiken.
Was sagen Betroffene?
"Es geht darum, klarzumachen, bis in welche Kreise das ging. Und das über Jahrzehnte. Kein normaler Mensch kann sich das ausdenken", sagt Bernd Held, Vertreter des Betroffenenbeirats im Bistum Speyer. Missbrauch nicht zu ahnden, sei ein weiterer Missbrauch. "Ein Erfolg der Studie wäre, wenn sich Strukturen zum Positiven verändern würden. Eine Enttäuschung wäre, wenn die Studie bloß wie ein Geschichtsbuch gelesen würde. Ich bin aber guter Dinge, weil von Beginn Betroffene einbezogen wurden."
Gibt die Studie Tipps zur Prävention?
Nein - und das absichtlich, sagt Schraut. "Historiker sind keine Politikberater." Man stelle aber Fragen, etwa: Wie kann verhindert werden, dass gesellschaftliche Entwicklungsprozesse erst verzögert in kirchlichen Einrichtungen reflektiert werden? Antworten darauf müsse das Bistum oder die katholische Kirche geben - oder die Gesellschaft.
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