Theaterblut

Der 27-jährige Tim Jentzen ist Regieassistent am Theater Freiburg, wo er am Montag "Das barocke Fressen" inszeniert – ein Porträt.  

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"Mehr Koks!", ruft Tim Jentzen dem Bariton zu, und dieser bemüht sich, die Regieanweisung umzusetzen: Er bekommt einen wachen Blick, fängt an, sich übertrieben zu bewegen und wankt Richtung Mezzosopranistin. "Ja! Super!", ruft Jentzen und setzt das Jentzen-Grinsen auf. Es zeigt an: Das Bild, das ich sehe, deckt sich mit dem Bild in meinem Kopf. Was er sieht: eine lange Tafel mit etlichen Requisiten wie Schweinskopf, Fasan, Austern, Trauben, Putto, Totenkopf, Leuchter, Pokale. Eine Mezzosopranistin, die auf der Tafel kniet, ein Tenor, der unter der Tafel liegt. Der Bariton versucht, die Mezzosopranistin zu küssen, wird abgewiesen, stolpert über den Tenor, stellt sich vor die Tafel und fängt an zu singen: "Ich freue mich auf meinen Tod." Er klingt überzeugt, man glaubt ihm aufs Wort. Jentzen verschränkt die Arme und grinst.

Seit zweieinhalb Jahren ist der 27-jährige Tim Jentzen Regieassistent am Theater Freiburg. Eigentlich hilft er also Regisseuren bei den Proben und schaut, dass bei Abendvorstellungen alles nach Plan läuft. Gerade arbeitet er aber an einer eigenen Produktion: dem "barocken Fressen", einem musikalisch-kulinarischen Abend mit Musik von Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach. Am Montag feiert das Werk im Winterer-Foyer Premiere – nicht Jentzens erste: Schon im Mai inszenierte er "Die kleine Zauberflöte"; die Badische Zeitung resümierte damals: "Jentzen versteht sich auf Opernmagie."

Er dokumentiert die

Proben mit seinem iPad.

Kein Wunder, er hat die Oper im Blut. Sein Vater war Technischer Direktor am Theater Basel, seine Mutter ist im selben Haus Inspizientin. Von Kindheit an erlebt er Regisseure, sowohl auf der Bühne als auch privat. Wer in Basel inszeniert, besucht auch die Jentzens und diskutiert mit ihnen über die Bretter, die die Welt bedeuten. Wenn Tim quengelt, setzen ihn seine Eltern in den Zuschauerraum, wo er abrupt ruhig wird. Mit sechs sieht er von dort aus fünfmal den "Don Giovanni". Das Waldhorn glänzt darin so schön, dass er es unbedingt selbst spielen will. Mit sechseinhalb probt er ein Musikstück, das der große Opernregisseur Peter Konwitschny für ihn und seine zwei Geschwister geschrieben hat. Das Stück ist modern und zu schwer, Tim kann gerade mal ein paar Töne spielen. Als sein Bruder ihm einen Streich spielt, bekommt Konwitschny einen Wutanfall. 18 Jahre später, nach seinem Studium, wird Tim bei ihm eine Hospitanz absolvieren.

"Wir müssen die Szene nochmal machen", sagt Jentzen und drückt auf den Aufnahmeknopf. Da er keinen eigenen Assistenten hat, dokumentiert er die Proben mit seinem iPad. "Er ist da Vorreiter bei uns im Haus", sagt die Freiburger Operndirektorin Dominica Volkert. Via Twitter informiert er 125 Follower über aktuelle Produktionen und den Fortgang der Proben; auf Facebook hat er für "Das barocke Fressen" eine Veranstaltungsseite angelegt. Er kommuniziert auf vielen Kanälen gleichzeitig, für ihn ein Ausdruck der Gegenwart. Angst vor Überinformation hat er nicht. "Was soll schon passieren?" So sei das nun mal heute.

Auf dem Tisch im Proberaum herrscht kreatives Chaos: MacBook, Club-Mate, Stifte, Skizzen. Außerdem drei Bildbände: "100 erotische Meisterwerke", "Barocke Tafelfreuden" und "Deftig Barock". Und der Spielfilm "Das große Fressen". Darin treffen sich vier Freunde in einer Pariser Villa, um eine letzte Orgie zu feiern und sich gemeinsam zu Tode zu fressen. "Die Vorlage", sagt Jentzen und nennt noch Luis Buñuels Klassiker "Der diskrete Charme der Bourgeoisie".

Lust, Ausschweifung, Überdruss, Tod. Um diese Begriffe kreist das Pasticcio und demgemäß deutet er die Barockstücke um. Und wer nur halbwegs mit Sigmund Freud vertraut ist, dem fällt nicht schwer, Bachs "Tobackspfeife" nicht ausschließlich als Rauchinstrument zu sehen. Platt? Vielleicht. Jentzen sagt: "Wichtig ist, dass es ankommt."

Um sich sein Waldhornstudium in Zürich zu finanzieren, legt er in einem Club elektronische Musik auf: Elektro, Minimal, Techno. Einen Sommer lang hilft er am Opernhaus Zürich aus, und während seine Mutter bei den Salzburger Festspielen arbeitet, vertritt er sie in Basel als Inspizient. Er gibt die Lichteinsätze, fährt die Übertitel – und nach der Vorstellung setzt er sich zu den Theatermachern und diskutiert mit ihnen über Inszenierungen und Besetzungen. Er schließt sein Studium ab, beginnt ein neues, stört sich am verschulten Bachelor/Master-System. Eines Tages ruft ein Regisseur ihn an: "Warum machst du eigentlich nicht Regie?" Jentzens Reaktion: Er schreibt fünf E-Mails, fragt Regisseure in ganz Europa, ob er bei ihnen hospitieren darf – Claus Guth, Frank Hilbrich, Christoph Marthaler, Peter Konwitschny und Jossi Wieler. Die Antworten fallen positiv aus. "Endlich! Super! Komm! Bin gespannt!" Ein Jahr lang schaut er ihnen bei der Arbeit zu, jetzt erst befällt ihn der Theatervirus. 2010 bewirbt er sich als Regieassistent in Freiburg. "Ach was, der Tim!", denkt sich Operndirektorin Volkert, als sie seine Bewerbung sieht. Sie kennt ihn von gegenseitigen Theaterbesuchen. "Dann soll er doch mal vorbeikommen zum Gespräch." Ein Regiediplom kann er nicht vorweisen. Stattdessen: ein Musikstudium, fünf Topp-Hospitanzen, 25 Jahre Theatersohnschaft und brennende Leidenschaft für die Oper.

Die Mezzosopranistin liegt auf der Festtafel, man sieht, wie ihre Bauchdecke sich hebt und senkt. Sie dreht ihr Gesicht in den Raum und singt: "Komm, süßer Tod." Ihre rechte Hand krallt sich an das Tischtuch, ihre linke streichelt ihre Oberschenkel. "Langsamer!", ruft Jentzen in den Gesang, während sie ihren Oberkörper aufrichtet. Sie findet ein Messer, ergreift es, beschaut es, fährt mit seiner Spitze an ihrem Unterarm entlang. "Stopp!", ruft Jentzen und geht auf sie zu. Er spricht auf sie ein, leise, ruhig, erklärt ihr noch einmal, wie er sich’s vorstellt.

Er hat Vertrauen. Ins Theater, in sein Team, in sich selbst. Er weiß: Bei der Premiere wird er keine Regieanweisungen rufen. Stattdessen wird er das Jentzen-Grinsen aufsetzen. Das kann er. Das hat er von klein auf geübt.

REGIEASSISTENT

Ein Regieassistent hilft dem Regisseur bei der Arbeit, führt das Regiebuch, erstellt den Probenplan und leitet die Abendvorstellungen, wenn der Regisseur nicht mehr vor Ort ist. Voraussetzung ist ein Regiediplom, es gibt aber immer wieder auch Quereinsteiger. Verdienst im ersten Jahr: mindestens 1650 Brutto.

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