Italien

Überlebende des Erdbebens von Accumoli sind nun an der Adria untergebracht

Für Elisa Vittori und Livia Micozzi brach 2016 mit den Erdbeben in Mittelitalien eine Welt zusammen / Die Überlebenden von Accumoli sind nun an der Adria untergebracht.  

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Weiterleben nach dem Beben: Livia und Elisa Foto: Max Intrisano
Darf man Musik machen, wenn gerade die Welt untergegangen ist? Nein, das geht nicht, dachte Elisa Vittori zuerst. In der provisorischen Zeltstadt von Accumoli wohnten Leute, die wenige Tage zuvor ihre Familienmitglieder beim Erdbeben verloren hatten und deshalb in tiefer Trauer waren. 299 Menschen starben im vergangenen August in Mittelitalien, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Es galt, mit Stille Respekt zu zollen, den Opfern von Accumoli und ihren Angehörigen. Die Blaskapelle sollte schweigen. Wäre es nicht auch dem Schlagzeuger Andrea und seinen Verwandten gegenüber respektlos gewesen, einfach ohne ihn weiterzumachen? In der Nacht des 24. August, als der Boden unter Accumoli bebte, erschlug der gerade erst renovierte Kirchturm des Ortes Andrea, seine Frau und die beiden kleinen Söhne im Schlaf. "Wir dachten, es ist besser zu warten", sagt Elisa. Sie spielt Klarinette und fing schon als Zehnjährige in der Blaskapelle an. Vor kurzem ist sie 18 Jahre alt geworden.

An diesem Abend, etwa zwei Wochen nach der Apokalypse, als es um den Tod, um Pietät und um die Frage ging, wie viel Leben und Neuanfang schon möglich sind, befand sich auch Giuseppe Scurci im Zelt. Der Psychologe war mit Kollegen am Tag nach der Katastrophe aus Rom nach Accumoli gekommen, um zu helfen. Als er mitbekam, dass Elisa und ihre Musikerkollegen unsicher waren, ob an diesem letzten Abend im Großraumzelt musiziert werden sollte oder nicht, da mischte er sich ein. "Musizieren kann helfen, Euch und den anderen", sagte Scurci.

Die Musiker dachten nach und diskutierten. Als die Menschen im Zelt dann auch noch zu drängeln begannen, dass ein bisschen Spaß vielleicht allen ganz gut tun würde, holten Elisa und ein paar Kollegen aus der Blaskapelle ihre Instrumente hervor. Sie improvisierten, es klang ein bisschen schräg, aber zu "When the Saints go marching in" tanzten die Leute bereits Polonaise. "Das war auch für uns das Zeichen: Es ist nicht vorbei", erzählt Elisa.

"Eine Blaskapelle, die spielt, ist ein Symbol für ein Dorf, das lebt", sagt Giuseppe Scurci heute. Accumoli lebt, das stimmt. Allerdings wurde die gesamte, etwa 600 Menschen umfassende Dorfgemeinschaft bald nach dem Erdbeben an die Adria verpflanzt, ins etwa 80 Kilometer entfernte Städtchen San Benedetto del Tronto, die sogenannte Hauptstadt der "Riveria der Palmen". Der 35-jährige Scurci, Generalsekretär des spendenfinanzierten Vereins Psyplus, zog mit ans Meer, heute kümmern sich vier Psychologen und ein Dutzend anderer Betreuer im Küstenstädtchen um die Menschen aus Accumoli.

Das ganze Dorf ist seit September hier, untergebracht in Hotels. Der italienische Staat trägt die Kosten für die obdachlos Gewordenen, etwa 20 000 waren es zu Beginn. Jetzt naht der Sommer, der Strand liegt nur eine Minute zu Fuß entfernt. Die 3-Sterne-Bleibe, in dem sich Elisa Vittori ein Zimmer mit ihrem Bruder teilt, trägt den Namen "Hotel Relax", was allerdings wie Hohn klingt, wenn man sich von den Betroffenen aus ihrem Alltag erzählen lässt.

Der Zug zum Beispiel. Direkt hinter dem Hotel führen die Bahngleise entlang. Es hört sich wie Donner an, wenn der Regionalzug vorbeisaust. "Am Anfang hat das bei mir Panik ausgelöst", erzählt Livia Micozzi, eine Kindergartenfreundin von Elisa Vittori aus einem Weiler bei Accumoli. Noch heute gehen manche einen kilometerlangen Umweg, um den Bahntunnel beim Hotel zu meiden. Dass nun die Badesaison beginnt, ist zwar schön. Viele Hotels haben die Menschen aus dem Erdbebengebiet aber nur unter der Bedingung aufgenommen, dass sie vor dem Sommer wieder verschwunden sind.

Nun kommen die Touristen, mit denen die Hoteliers mehr verdienen. Außerdem müssen Verträge mit Reiseveranstaltern eingehalten werden. Elisa und Livia fühlen sich inzwischen einigermaßen wohl in der Kleinstadt am Meer. Deren Bürgermeister hat sich aber auch schon beschwert, dass viele hundert zusätzliche Stadtbewohner auch Unannehmlichkeiten bereiten, etwa längere Wartezeiten im Krankenhaus. "Le pecore via dal mare", stand eines Tages auf einem Bauzaun am Hafen geschrieben – die Schafe sollen demnach zurück in die Berge. Ob das nun auf die Erdbebengeschädigten bezogen war oder auf die Anhänger eines rivalisierenden Fußballklubs, wie Giuseppe Scurci glaubt, ist nicht ganz klar. Fest steht, dass es für die Menschen aus Accumoli auch an der Adria nicht besonders gemütlich ist.

Alle Häuser, die im Erdbebengebiet noch stehen, sind unzugänglich. Neun Monate nach der Katastrophe werden erst jetzt langsam die ersten hölzernen Fertighäuser aufgestellt, eingerahmt von schaurigen Ruinen. Die Arbeiten haben mit Verspätung begonnen. Accumoli wird wieder umziehen, so viel steht fest. Nur wohin? "Vielleicht verpflanzen sie uns in ein anderes Hotel im Landesinneren, ich weiß es nicht", sagt Livia. Sie weiß auch nicht, ob sie überhaupt zurück will, in ein erdbebensicheres, aber steriles Häuschen in der Nähe des Dorfes, umgeben von Trümmern, ohne jede Möglichkeit des Zeitvertreibs. Sie könnte auf Dauer am Meer bleiben, aber wo genau und mit welchem Geld?

Livia war in der Nacht des Unglücks mit Freunden im Freien. Plötzlich gingen die Lichter aus, ein schwerer Donner hob an, die Erde begann zu beben, als sei eine Bombe explodiert. Dann fielen die Häuser in sich zusammen. "Ich dachte: Aber da sind doch Leute drin! Ich wusste genau, wer in welchem Haus schlief. Wir kennen uns alle." Menschen wurden erdrückt, Livia und ihre Familie überlebte. Aber der 18-Jährigen wurde der Boden unter den Füßen weggezogen in einer Lebensphase, in der die meisten noch Halt brauchen. Hierbleiben? Zurückgehen? Vielleicht nach Padua zu ihrer Schwester ziehen? In die Schule gehe sie kaum noch, sagt Livia, sie habe eine Blockade.

Giuseppe Scurci weiß, wie die zusätzliche, durch die erneute Verpflanzung drohende Unsicherheit auf die Menschen wirkt. "Ihre Traumata, die viele langsam in den Griff bekommen, werden wieder wach gerufen oder verstärkt", sagt der Psychologe. Die einen reagieren mit Erinnerungslücken, um sich vor der Vergangenheit zu schützen, andere mit Aktionismus, um der Realität zu entkommen. Alle haben Ängste, fühlen sich ausgeliefert und sind extrem empfindlich.

Scurci und seine Kollegen drehen ihre Runden in den Hotels, lassen sich auf Gespräche ein. Schon ein banales "Wie geht’s?" kann in der Isolation zwischen Kreuzworträtseln und Tunnelblick aufs Smartphone weiterhelfen. Die Psychologen bieten in einer ehemaligen Schule beim Hotel Relax kostenlos Einzelgespräche, Familien- oder Gruppentherapie an, dazu Workshops für die Jüngeren, Fotografie, Recyclingkunst, Musik. Immer samstags, wenn genügend Leute kommen, probt auch die Blaskapelle in der Schule. Ein Musikgeschäft spendete neue Instrumente, die Noten konnten Elisa und die anderen aus den Trümmern retten. Sie liegen nun in einer Vitrine in der ehemaligen Schule von San Benedetto, auf der jemand ein Stück Putz aus dem zerstörten Probensaal von Accumoli platziert hat. Als beinahe überflüssige Erinnerung an die Katastrophe. Jeder hier trägt das Unglück mit sich herum.

60 bis 70 Leute, darunter auch Elisa und Livia, die beim Foto-Workshop mitmachen, nehmen das Angebot der Psychologen an. Zwischen Elisa, Livia, vielen anderen und den jungen Helfern von Psyplus ist ein Verhältnis freundschaftlicher Solidarität entstanden. Die Verbundenheit geht so weit, dass Giuseppe Scurci mit seinem Saxophon inzwischen bei den Proben und Konzerten der Blaskapelle mitspielt. "Sie lassen uns nicht allein", sagt Elisa.

Das ist offenbar auch notwendig, denn das Monster kommt immer wieder zurück. An einem Sonntag Ende Oktober war die Kapelle von Accumoli auf dem Weg zu einem Blaskonzert in Rom. Auf dem Weg durchs Erdbebengebiet machte die Gruppe Rast, um auf andere Musiker zu warten. Plötzlich begann der Bus zu wackeln, die noch stehenden Häuser des schon im August schwer beschädigten Dorfes Arquata del Tronto brachen vor Elisas Augen zusammen. Sie hatte Todesangst. "Es war, wie einen Schritt nach vorne zu gehen und zehn zurück", sagt Psychologe Scurci. Am 19. Januar folgte erneut ein schweres Erdbeben in der Gegend, das bisher letzte.

Elisa will trotzdem zurück. Sie will beim Wiederaufbau mithelfen. Das Haus der Familie ist beschädigt, aber Elisas Vater ist Maurer und wird das Gebäude schon wieder herrichten, hofft sie. "Sobald ich auch nur ein bisschen Zeit habe, fahre ich hoch in die Berge", sagt sie. Auch sie konnte sich in der Schule lange nicht konzentrieren, jetzt nimmt sie einen mutigen Anlauf aufs Abitur.

Wenn möglich, geht Elisa zu den Proben der Blaskapelle, auch bei den anstehenden Konzerten will sie dabei sein. Die Band von Accumoli wird nach ganz Italien eingeladen, demnächst spielt sie im Aostatal, bei Bologna, Verona und Brescia. Die Auftritte sind weniger ein Zeitvertreib oder Ablenkung. Sie sind der Beweis dafür, dass Accumoli noch lebt.

Spenden an die Psychologenorganisation Psyplus unter:

Kontoinhaber: Psy+ Onlus
IBAN: IT30U0832703235000000003301
BIC: ROMAITRRXXX

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