Serie: Verschwundene Dinge

Die Schrankwand ist Holz gewordene Sesshaftigkeit

Aus den Augen, aus dem Sinn? In einer kleinen Serie erinnern wir an Dinge, die aus dem Alltag verschwunden sind. Und an das Lebensgefühl, das wir mit ihnen verbinden. Heute: die Schrankwand.  

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Schrankwand –  made in DDR  | Foto: Hendrik Schmidt (dpa)
Schrankwand – made in DDR Foto: Hendrik Schmidt (dpa)

Die im Elternhaus war zweizwanzig hoch, vierachzig lang und hatte die obligatorische L-Form: Im Eck hauste der Röhrenfernseher und verschwand bei Nichtgebrauch hinter Türen – wie in einer Schrankwand ja so manches. Die Wohnwand, wie sie auch hieß, weil sie die Wohnung erst zu einer solchen machte, hatte Platz für alles und gab allem seinen Platz. Unverrückbar stand sie da, die Holz gewordene Sesshaftigkeit. In der Anschaffung teurer als ein Kind, im Unterhalt dankbarer: anspruchslos, belastbar, häuslich. Dominant in der Optik, devot im Charakter.

Die offenen Regale waren Schauraum der Gesinnung: Bildungsbürger bestückten ihn mittig mit einem 20-bändigen Konversationslexikon (ja, die Enzyklopädie, auch so ein verschwundenes Ding ... ), flankiert von Goethe, Shakespeare, Tschechow. Klassiker und Lieblingsromane, die sich sehen lassen konnten. Buchrücken nicht unwichtig. Karl May war okay, Konsalik musste ins geschlossene Fach, Reclam sowieso. Puristen präsentierten statt gemischter Belletristik vielleicht die Marx-Engels-Gesamtausgabe, lässige Zeitgenossen eine Kollektion polierter Matchbox-Autos. Dekoriert wurde das jeweilige Setting mit Nippes und Familienfotos. Ganz außen ruhten die Boxen der Stereoanlage, liegend kündeten Bildbände von Kunstsinn, Hobbys und Reisen.

Karl May war okay, Konsalik musste ins geschlossene Fach

Und erst das Innenleben! Überm Fernseher Plattenspieler und später CD-Player, hinter Butzenscheiben die Gläser für gut. Dann das Highlight: die Hausbar mit automatischer Beleuchtung und verspiegelter Rückwand. Die Klappe war abschließbar, Schutz des Nachwuchses und der geistigen Vorräte zugleich. Zum Universum gehörten auch Schubladen für Silberbesteck oder alte Briefe – und die dunklen, unerforschten Zonen. Stauraum im Wortsinne, weil da alles dicht an dicht stand und nichts sich bewegte. Hier konnte ein Fondue sich jahrzehntelang unbehelligt seiner Pflichten entziehen.

Die Schrankwand war der Fels in der Brandung des bürgerlichen Alltags. Sie war unsterblich, ob in Eiche rustikal oder später Kiefer lackiert, Buche geölt, Billy beschichtet. Ach mächtiger Mitbewohner, ruhe in Frieden! Denn längst ist die flächendeckende Multifunktionswand einer lächerlichen Schrumpfform gewichen. Ein schmalbrüstiges Vitrinchen, ein dürftiges Sideboard, ein flaches Wandbord: Das ist alles, als bestünde ein Hausstand heute aus kaum mehr als einem Smartphone.

Muss die elterliche Schrankwand auf den Sperrmüll? Haben will sie keiner. Nicht geschenkt. Kaum Klicks auf Kleinanzeigen. Irgendwie aber auch verständlich: Bei den heutigen Preisen kostet so ein massives L locker seine 50 Euro pro Monat. Kaltmiete.

Schlagworte: Karl May

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