Weingarten, das Miniatur-Kreuzberg der Region

Schülerreporterin Selma Nabulsi wagt eine Analyse des Freiburger Stadtteils Weingarten – und plädiert für den zweiten Blick.  

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Mitten in Weingarten: der Auggener Weg   | Foto: Michael Bamberger
Mitten in Weingarten: der Auggener Weg Foto: Michael Bamberger
Schon seit jeher gilt Weingarten als der soziale Brennpunkt Freiburgs, das Miniatur-Kreuzberg der Region. Auf den Ersten Blick kann man tatsächlich nicht viel erkennen, was einen vom Gegenteil überzeugen könnte: Bis auf die frisch sanierte "Bugginger 50" sehen so gut wie alle Häuser nicht gerade einladend aus. Und wie steht es aus mit dem berühmten zweiten Blick, der so oft so manches widerlegt?

Schaut man auf die Statistiken, sieht es nicht so gut aus für Weingarten: Bei der Arbeitslosenquote ist die Region um die berüchtigte Krozinger Straße der traurige Gewinner im Stadtteilcontest von Freiburg. Warum ist das so? Für viele ist die Antwort von vorneherein klar: Niedrige Mieten = viele Arbeitslose = viele Ausländer

Aber was hat dazu geführt, dass man Arbeitslose mit Ausländern in Verbindung bringt? Natürlich haben Migranten es schwerer als Deutsche, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Schließlich sind manche gerade erst eingereist, müssen die Sprache noch lernen – müssen sich zurechtfinden. Aber wenn das geschafft ist, müssten doch alle Ausländer arbeiten gehen, oder nicht?

Offenbar stimmt diese Gleichung aber nicht, sonst würde sich der Unterschied zwischen Ausländern und Deutschen nicht so sehr auf die Arbeitslosenquote auswirken, die tatsächlich unter Ausländern signifikant höher ist als bei Deutschen. Im Oktober 2011 meldet die Bundesagentur für Arbeit 5,9 Prozent deutsche Arbeitslose und 13,8 Prozent ausländische. Wo liegt dann das Problem?

Gehen wir in der Geschichte eines Migranten einen Schritt zurück: Bevor man arbeitet, muss man sich integriert haben. Ist das der springende Punkt? Um die Antwort zu finden, gibt es mehrere Wege: Man kann es sich einfach machen, die Stammtischparolen von Thilo Sarrazin auswendig lernen und es dabei belassen. Oder aber man schaut nach Weingarten. Und da beginnt die Gratwanderung.

Einerseits ist man schnell dabei, alle Weingärtner in eine Schublade zu stecken und "Deutschland schafft sich ab" doch Recht zu geben. Andererseits bemerkt man auch Anderes. Und man beginnt, das System zu hinterfragen.

Vor 50 Jahren begann der Einwanderungsschub nach Deutschland. Und damals wie heute wurden Zuwanderer in Sozialviertel abgeschoben: alle Sozialwohnungen in einen Stadtteil, alle Ausländer in einen Stadtteil – nur weg von den Deutschen. Da beginnt der Teufelskreis: Woher soll ein Ausländer unsere Kultur, die Sitten und Bräuche kennen lernen, wenn sein unmittelbares Umfeld aus weiteren Ausländer besteht? Genau das ist das Problem: Man toleriert Ausländer mehr, als dass man sie integriert. Andererseits mögen viele sagen: "Toleranz klingt doch schon mal ganz gut!" Der Haken dabei ist, dass Toleranz nur in Maßen gezeigt wird: "Solange er in seinem Weingarten bleibt, kann er seinen CD-Player von mir aus voll aufdrehen."

Menschen werden toleriert, solange sie einem nicht zu nahe kommen. Und doch sehen wir, dass sie sich nicht integrieren, sehen sie als Last, stempeln sie ab – und fühlen uns in unserem Unwillen, Ausländer in der Nachbarschaft zu haben, bestätigt.

Die Konsequenz: Die nächsten Sozialwohnungen werden nicht etwa in der Wiehre oder in Herdern gebaut, sondern wieder in Weingarten. Das wirkt sich auch auf die Wohnzufriedenheit aus. Eine Umfrage der Stadtteilzeitung Weingarten ergab, dass in Weingarten ungefähr zwei Drittel der Menschen zufrieden sind mit ihrem Wohngebiet. In Freiburg insgesamt liegt die Rate bei stolzen 85 Prozent. In derselben Umfrage kam heraus, dass rund 50 Prozent der Weingärtner ihre Einkäufe innerhalb des Stadtteils erledigen. Weingarten schottet sich ab.

Ein bekanntes Zitat vom Schriftsteller Max Frisch heißt: "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen." Wie sieht es heute aus? Kann man in Weingarten guten Gewissens behaupten, dass sich die Migranten wie Menschen fühlen, oder sind es eher Arbeitskräfte und Sozialhilfeempfänger?

Die Situation, in der viele stecken, sieht so aus: Man sieht in Weingarten Russen, die elf Monate im Jahr in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, um mit ihrer Familie für einen Monat nach Hause zu gehen, nach Russland. Man sieht Türken, die 340 Tage im Jahr ihre Sozialhilfe sparen, sich und ihren Kindern nichts gönnen, um sich wenigstens für die restlichen 25 Tage wie ein Mensch zu fühlen – in ihrer Heimat, der Türkei.

Denn hier, in Deutschland, fühlen sie sich nicht wie ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, nicht wie ein Mensch. Es ist das Land, das ihnen hilft, sich finanziell über Wasser zu halten, das Land, das es ihnen ermöglicht, die gezählten Tage in ihrer Heimat zu genießen, aber nicht das Land, in dem sie sich zu Hause fühlen.

Wie soll das auch gehen? Wie sollen sie sich als Deutsche fühlen, wenn sie nicht wissen, wie ein Deutscher fühlt? Wenn alle Migranten auf einem Fleck leben, in einen Stadtteil abgeschoben werden, wie sollen sie die deutsche Sprache lernen, wenn um sie herum kein Deutsch gesprochen wird? Wie sollen sie die Kultur kennen lernen, wenn keiner um sie herum sie zu erklären vermag? Wie sollen sie sich integrieren, wenn keiner in Weingarten weiß, wie das geht?

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