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Wenn der Stimmennebel klart

Stephanie Streif
  • Di, 23. Oktober 2018
    Literatur & Vorträge

     

Das Freiburger Literaturhaus hat eine Textwerkstatt für Jugendliche im Wald stattfinden lassen.

Der gemeinsame Sonntagvormittag beginnt mit einem Spiel. Sätze bauen, heißt das. Wie alle anderen, die neben ihr auf den bunten Flickenteppichen im Freiburger Literaturhaus sitzen, zieht sich die zwölfjährige Nelli Granacher drei Zettel aus einem Haufen und faltet sie auseinander – "Mensch", "Stein", "neuer" hat sie gezogen. Das sind Nellis Wörter, aus denen sie jetzt Sätze denken soll. Ja, das, was jetzt entstehe, dürfe ruhig auch verrückt sein, sagt Workshop-Leiterin und Autorin Marie T. Martin. "Soll es sogar. Das macht freier im Kopf." Lange braucht es nicht, bis Nelli ins Schreiben kommt: "Dass Menschen sich wie Steine benehmen, ist für Neuer nichts Neues" ist einer von Nellis Sätzen.

Nelli hat das Wochenende über zusammen mit acht anderen Jugendlichen geschrieben – unter anderem im Wald. Samstagmorgen ging es mit dem Bus hoch in den Schwarzwald, genauer nach Lenzkirch, noch genauer an die Haslach, die sich dort oben durch moosige und steinige Waldlandschaften schlängelt. Schreiben, was der Wald mit ihnen macht. Das war es, was die jungen Menschen, allesamt Mädchen und junge Frauen, zwischen zwölf und zwanzig Jahren, erfahren wollten. Die Idee zu dem dreitägigen Workshop hatte Autorin Martin, die für das Freiburger Literaturhaus auch regelmäßig eine Textwerkstatt für Jugendliche – die Schreibcouch – anbietet. Jetzt hat sie die Couch zur Abwechslung mal nach draußen geschoben. Auch sie wollte wissen, wie die Jungautorinnen auf das "Lebendige um sie herum antworten". Die Natur nehme man heute oft nur noch nebenbei wahr, sagt sie.

Sahra Ehret weiß genau, was sie meint. Als sie am Freitagnachmittag zum Workshop-Auftakt ins Literaturhaus kam und sich im Innenhof für die Expedition am nächsten Tag warm schreiben wollte, habe sie überhaupt keinen Blick für die großen Bäume dort gehabt, erzählt sie, vor lauter Zivilisationslärm, der sich von der Bertoldstraße in den Hof geschoben habe. Am nächsten Tag im Wald hat sie die Natur dann aber mit Zeilen wie "Doch der Stimmennebel klart, wenn man inne verharrt" an sich herankommen lassen und Naturbilder in Gedichtform gepackt. "Das mache ich sonst nicht, wenn ich schreibe."

Auch Mirjam Wißkirchen, 14 Jahre alt, zeigt sich überrascht davon, wie der Wald, den sie im Alltag nur noch aus dem Augenwinkel heraus wahrnehme, sie ins Schreiben gebracht habe. Die Teilnehmerinnen blättern durch ihre Hefte, zeigen, was sie geschrieben haben. Unglaublich, was da zusammengekommen sei, findet Sarah. Die anderen stimmen ihr zu. Die Natur ist immer wieder zentrales Moment in den Texten: Da ist der auf einem Stück Holz wuchernde Minidschungel, der an einem vorbei treibt, oder der Herbst, der ins Maulen kommt, weil er für die Menschen heute nicht mehr ist als ein Übergang, ein Dazwischen.

Auch Angst drücken die Jungautorinnen häufig in ihren Texten aus. Vor dem Alleinsein, aber auch davor, dass der Mensch die Natur unter viel zu viel grauem Asphalt verschwinden lässt. Umso intensiver wird das Walderleben: "Die Wahrheit ist nah, und alles, was heutzutage mein Leben versifft weit entfernt und von Nebel verhüllt, weil es tief im Oberrheingraben liegt", schreibt die 18-jährige Stefanie Heizmann in ihr Heft. Bevor die Truppe am Samstagabend wieder in den Bus steigt, liest sie dem Wald ihre Texte vor. Ein Eichhörnchen sei vorbeigekommen, erzählen sie. Es habe sich dazu gesetzt und zugehört.

Ressort: Literatur & Vorträge

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 23. Oktober 2018: PDF-Version herunterladen

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