"Wir können das nicht verstehen"
JUZ-INTERVIEW mit Ingeborg Hecht, die über ihre Jugend als "Halbjüdin" ein sehr wichtiges Buch geschrieben hat.
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Das kann Fernsehen nicht: einen auf Tuchfühlung mit Zeitzeugen bringen. Die Schüler 10 c aus der Emil-Thoma-Realschule in Freiburg waren so beeindruckt von der Begegnung mit der 83-jährigen Schriftstellerin Ingeborg Hecht, dass zwei von ihnen sie im Anschluss an die Lesung für die JuZ interviewten. Jonas Doering und Sebastian Beuven befragten Ingeborg Hecht zu ihren Jugenderlebnissen als "Halbjüdin" in Hamburg.
Ingeborg Hecht: Natürlich! Die "unbelasteten" Kinder und Jugendlichen hatten sowieso beides. Und wir haben es uns einfach genommen. Von Hamburg aus war es damals üblich in die Heide rauszufahren. Außerdem fing das gerade mit dem Kino an - jedenfalls, wenn man ins Kino gehen durfte. Dort konnte man in diese für heutige Verhältnisse "alten" Filme gehen. Diese Filme sind für uns Ältere noch immer mit Wehmut verbunden, weil das damals eine große Hilfe für uns war und richtig schön.
JuZ: Gab es neben Ausflügen und Kino noch andere Vergnügungen?
Ingeborg Hecht: An erster Stelle das Theater und die Oper. Da sind wir oft von der Schule aus hingegangen - und haben zum Beispiel die ganzen Schiller-Klassiker auf der Bühne gesehen. Wir hatten eine andere Art von Freizeit und Spaß als ihr heute. Und wir hatten natürlich überhaupt keine Technik. Aber wir hatten Fahrräder und in Hamburg sind wir auch segeln gegangen.
JuZ: Sie sprachen eben auch vom Kino - hatten Jugendliche damals auch Idole wie die heutigen Jugendlichen?
Ingeborg Hecht: Ich kenne die Idole von heute nicht. Aber wir haben damals sehr für Schauspieler geschwärmt. Ich zum Beispiel fand in den Nachkriegsjahren Charles Regnier unglaublich gut.
JuZ: Haben junge Leute auch getanzt?
Ingeborg Hecht: So etwas wie "Techno" kannten wir nicht. Wir haben damals natürlich "richtig" getanzt - und, ja, wir sind sehr gerne tanzen gegangen. In meinem Buch beschreibe ich allerdings, dass unsere Eltern zunehmend solche Angst um uns hatten, dass wir schon bald nicht mehr tanzen gehen durften.
JuZ: Welchen Stellenwert hatte Politik in Ihrem Alltag als Jugendliche?
Ingeborg Hecht: Keinen sehr hohen. Der politische Unterricht in den Schulen ging nur bis Bismarck. Und die Eltern sprachen nicht mit den Kindern über Politik. Das war einfach kein Thema, außer in sozialdemokratischen und kommunistischen Familien. Da haben die Eltern den Kindern früh beigebracht, wofür sie kämpfen. Bei uns war das nicht so. Mein Vater war Rechtsanwalt und wir haben über diese Dinge nicht geredet, bis das Dritte Reich kam, und wir gezwungen waren, uns damit zu befassen.
JuZ: Wir halten politisches Interesse unter Jugendlichen für unheimlich wichtig - sehen Sie das auch so?
"Ich erfahre in den Schulklassen immer diese große Aufmerksamkeit." Ingeborg Hecht, Schriftstellerin
Ingeborg Hecht: Das ist genau, was ich immer zu vermitteln versuche! Wir wissen, dass viel Schlimmes passiert, aber unsere Demokratie ist immer noch das Beste, was es gibt. Die Jugendlichen, die sich nicht interessieren, sind selbst schuld, wenn ihnen politisch etwas Schlimmes passiert. Man kann ganz früh anfangen, Einfluss zu nehmen - in Freiburg gibt es sogar einen Jugendrat. Da hat eure Generation viel aus dem Dritten Reich gelernt. Denn damals hat sich niemand um Politik gekümmert, sonst wären sie nicht in solch ungeheuren Massen diesem "Rattenfänger" auf den Leim gegangen. Das passiert euch nicht mehr.
JuZ: Warum haben damals die allermeisten Menschen weggeschaut?
Ingeborg Hecht: Manchmal antworte ich da, "fragt einen Psychiater!" Wir können nicht verstehen, warum damals ein ganzes Land in diesen Wahn verfallen ist. Ich verstehe zwar, dass man in einer Zeit sehr hoher Arbeitslosigkeit - und die war viel schlimmer als heute! -, dass man da einem nachfolgt, der sagt, ich beschaffe euch Arbeit. Aber ich begreife nicht, dass man zugeguckt hat, wie den Nachbarn Schreckliches widerfahren ist, mit denen man befreundet war. Wir können das nicht verstehen.
JuZ: Obwohl Freiburg heute eine offene und tolerante Stadt ist, gibt es auch hier rechtsradikale Gruppierungen. Sind Sie damit schon persönlich konfrontiert worden?
Ingeborg Hecht: Ich habe so was noch nie erlebt, noch nicht mal ein böses Wort gehört. Nur einmal in über 20 Jahren habe ich einen gemeinen Brief bekommen. Es wird solche Menschen immer geben, - das muss eine Demokratie aushalten.
JuZ: Im September 2002 widersetzten sich die Freiburger geschlossen gegen einen NPD-Aufmarsch . . .
Ingeborg Hecht: Das war herrlich! Der Punkt ist: wir haben eine Demokratie und die NPD ist nicht verboten. Ich finde das auch besser so. Denn nur so können sie sich nicht verstecken und die anderen Parteien unterwandern. Man hat sie im Blick und im Griff.
JuZ: Als Sie ausgegrenzt wurden - was haben Sie da vermisst?
Ingeborg Hecht: Ich hatte in Hamburg das große Glück, dass ich privat nicht mit unfreundlichen Dingen konfrontiert wurde, sondern nur durch Gesetze. Dafür danke ich meinem Schicksal! Ich ließ mich von einem extremen Antinazi-Pfarrer taufen, um den Judenstern nicht tragen zu müssen. Das hätte mir auch nichts mehr genützt, wenn die Alliierten nicht rechtzeitig gekommen wären. Denn als der Krieg schon fast verloren war, haben sich die Nazis ja noch ausgedacht, was man weiter mit uns macht.
JuZ: Was möchten Sie den Jugendlichen von heute mitgeben?
Ingeborg Hecht: Ihr seid diejenigen, die später was zu sagen haben. Deshalb habe ich auch keine Angst um die Zukunft. Denn ich erfahre in den vielen Schulklassen, in die ich komme, immer diese große Aufmerksamkeit. Wichtig ist, dass man sich auch mit den aktuellen Minderheiten befasst. Man muss wachsam sein und es ist gut, Bescheid zu wissen!
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