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Zischup-Interview

"Aus der Scheinwelt erwachen"

  • Stella Carullo, Klasse 8a, Kolleg St. Sebastian & Stegen

  • Fr, 04. Mai 2018, 00:00 Uhr
    Schülertexte

Britta Wahl ist in Deutschland aufgewachsen, lebt aber heute in Norwegen. Ihre Nichte, Zischup-Reporterin Stella Carullo aus der Klasse 8a des Kollegs St. Sebastian in Stegen hat mit ihr gesprochen.

Britta Wahl mit ihrem Hund Broston auf einer Demo.   | Foto: Kristin Hansen
Britta Wahl mit ihrem Hund Broston auf einer Demo. Foto: Kristin Hansen
Zischup: Wie kommt ihr mit dem langen Winter in Norwegen klar?
Britta Wahl: Es ist nicht immer so einfach. Am Anfang war es nicht so schlimm, aber jetzt ist es manchmal ganz schön bedrückend. Es ist lange sehr dunkel, etwa von Dezember bis Mitte Januar, die Sonne sehen wir überhaupt nicht mehr in dieser Zeit. Das schlägt schon ziemlich aufs Gemüt. Und wenn dann Mitte Januar die Sonne das erste Mal für ein paar Minuten über dem Horizont steht, ist das schon was ganz Besonderes. Im Sommer ist es dafür rund um die Uhr hell.
Zischup: Gibt es etwas, das ihr an Deutschland vermisst, das es in Norwegen nicht gibt?
Wahl: Mittlerweile nicht mehr. Am Anfang war es noch die Auswahl in den Läden, was man alles so an Essen kaufen kann, denn hier ist die Auswahl bei weitem nicht so groß. Das war erst einmal hart, aber mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt und die Einkaufsmöglichkeiten sind mit den Jahren ja auch immer besser geworden. Jetzt vermissen wir eigentlich nichts mehr. Wenn wir mal ein Päckchen aus Deutschland geschickt bekommen, mit lauter Sachen, die es hier nicht gibt, ist das für die Kinder ganz toll.

Zischup: Was ist für euch das Schönste an Norwegen?
Wahl: Hier sind nicht so viele Menschen, es ist nicht so dicht bevölkert. Wenn man in Deutschland in die Stadt geht, ist das ein einziges Gedränge, und hier, zumindest wo wir wohnen, ist es nicht so schlimm. Höchstens in den Großstädten wie Oslo vielleicht, aber das ist mit dem Flugzeug etwa zwei Stunden von hier entfernt.
Zischup: Wie ist die Einstellung der Norweger zu Tieren und Natur? Siehst du große Unterschiede zu der der Deutschen?
Wahl: Oh ja. Norwegen ist sehr naturfeindlich. In Deutschland wurden Luchse und Wölfe wieder neu angesiedelt, und das obwohl Deutschland viel dichter bevölkert ist und eigentlich viel weniger Platz für solche Tiere ist. Und hier, wo es so viel Natur gibt und viel weniger Menschen, hier ist es genau umgekehrt. Hier wollen sie am liebsten alle großen Raubtiere ausrotten. In diesem Fall sollte man sich an Deutschland ein Vorbild nehmen.

Zischup: Du engagierst dich ja sehr viel für den Tierschutz, was genau machst du denn? Bist du in einer Tierschutzorganisation?
Wahl: Also, es gibt zwei große Tierschutzorganisationen in Norwegen: "NOAH - for dyrs rettigheter" und "Dyrebeskyttelsen". Für NOAH habe ich ganz viele Demonstrationen gegen das Tragen von Pelzen oder Zirkus mit Tieren organisiert und durchgeführt. Dyrebeskyttelsen, zu Deutsch "Tierschutz", hilft hauptsächlich Tieren, die auf der Straße leben, also besonders Katzen. Ich sitze hier im Lokalverein und beschäftige mich besonders mit dem Einfangen verwilderter Straßenkatzen. Ich bin Pflegemutter für mittlerweile sechs Katzen und habe in den letzten Jahren fünf gerettet und adoptiert. Insgesamt haben wir jetzt schon elf Katzen. Leider gibt es hier wirklich wilde Katzen ohne Ende, die draußen leben, weil die Leute ihre Tiere nicht kastrieren. Und Katzen können ja mehrmals im Jahr Junge kriegen, die wiederum nach einem halben Jahr schon geschlechtsreif sind und sich vermehren. Das geht dann Schlag auf Schlag. Für die Katzen ist der Winter draußen sehr hart, es sind ja auch eigentlich Wüstentiere. Ihr Pelz schützt vor hohen Temperaturen, aber isoliert nicht bei Minusgraden.

Zischup: Arbeitest du ehrenamtlich für den Tierschutz? Oder bringt dir dein Engagement auch Geld ein?
Wahl: Nein, ich mache das ehrenamtlich in meiner Freizeit neben meinem Beruf als Zahnärztin.
Zischup: Was ist mit deinem Mann? Ist er auch so engagiert wie du?
Wahl: Ja, aber wir teilen die Arbeit auf. Er baut Hütten und Gehege, bereitet das Essen und übernimmt die Fütterung unserer Tiere. Er hilft mir auch, wenn ich zum Beispiel eine große Anzahl Plakatträger für eine Demo brauche. Die fertigt er dann mal eben in seiner Werkstatt.
Zischup: Wer war von euch beiden zuerst so tierverrückt? Oder wart ihr es beide schon und habt euch gerade deshalb auf Anhieb verstanden?
Wahl: Hmmmmm, also ich war eigentlich schon von Kindesalter an tierverrückt. Ich habe immer schon Tiere gern gehabt oder sie gerettet. Als ich klein war, habe ich immer Marienkäfer aus dem Wasser gesammelt. Einmal habe ich einen kleinen Eichelhäher im Wald gefunden, der aus dem Nest gefallen war, und ihm geholfen. Wir hatten eigentlich auch immer Tiere zu Hause. Luca wollte schon immer einen Hund haben und ich hatte dann die Idee von der Dogge; wir sind uns immer einig, das ist total toll. Weil er auch so tierlieb ist, war alles ziemlich einfach, erst ein Hund, dann noch ein Hund, dann noch ein paar Katzen, und so weiter. Und obwohl er allergisch auf Katzenhaare reagiert, war das kein Hindernis. Wir haben ja hier unsere Luftreiniger, die Haare und feine Partikel aus der Luft rausfiltern.

Zischup: Überträgst du dein Wissen und deine Erfahrungen auch auf deine zwei Kinder?
Wahl: Ja, unbedingt. Dadurch, dass wir hier auf dem Land vielmehr Einblick in die Fleisch- und Milchproduktion haben, ist es nicht selten, dass man die furchtbaren Zustände, in denen vor allem Kühe und Schweine leben, oft mit eigenen Augen zu sehen bekommt. Das ist auch einer der Gründe, weshalb wir uns hauptsächlich vegan ernähren. Unsere Kinder mögen Tiere sehr gerne, aber es ist nicht so einfach, gegen das System anzukommen. In der Schule lernen sie, dass Kühe gerne im Stall ihr gesamtes kurzes Leben angekettet rumstehen und täglich gemolken werden. Sie werden aber nicht darüber aufgeklärt, dass den Kühen die neugeborenen Kälbchen weggenommen werden - nur damit sie den Menschen nicht die Milch wegtrinken. Überall ist Milchreklame: Auf den Fußballshirts, im Fernsehen, in den Zeitungen. Wir zwingen unsere Kinder nicht, vegan zu leben. Wenn sie zu Besuch bei Freunden sind, können sie essen, was sie möchten. Aber wir wollen ein gutes Vorbild sein und erklären ihnen, was Sache ist.

Zischup: Wusstest du schon immer, dass du dich einmal für Tiere einsetzen oder wenigstens im Beruf mit ihnen zu tun haben willst?
Wahl: Eigentlich nicht, aber hier auf den Lofoten habe ich mich sehr verändert, eben weil ich gesehen habe, wie die Tiere es in den Ställen haben. Außerdem betreibt Norwegen immer noch kommerziellen Walfang. Und da Wale meine große Leidenschaft sind, ist das für mich besonders schlimm. All das hat mich dazu bewegt, mich aktiv für Tiere einzusetzen und meine Essgewohnheiten komplett auf vegan umzustellen.
Zischup: Würdest du sagen, dass zwischen der Tierhaltung und Tierquälerei in Deutschland und der in Norwegen ein großer Unterschied besteht?
Wahl: Nein, eigentlich nicht. Nur habe ich es in Deutschland nicht so mitgekriegt, weil man nur mit Werbung vollgedröhnt wird und man nicht viel von der Tierhaltung mitbekommt, so etwas passiert ja alles hinter verschlossenen Türen, die Öffentlichkeit sieht das nicht. Aber hier auf dem Land lädt einen der Nachbar schon mal ein, mit den Kindern die Kälbchen und die Ferkelchen angucken zu kommen. Wir waren dann dabei, als der Bauer uns stolz zeigte, wie er den kleinen Ferkeln die Zähne mit einer Zange aus dem Werkzeugkoffer abgeknipste. Als Zahnärztin weiß ich, dass auch Schweinezähne Nerven haben und wie wir Schmerzen im Zahn empfinden. Die Ferkelchen haben geschrien, und das werde ich wohl den Rest meines Lebens nicht vergessen.

Zischup: Ist die Nachfrage nach Pelz in Norwegen, oder generell im Norden, größer als weiter im Süden?
Wahl: Nein, es ist bestimmt wie überall - eine Modeerscheinung. Pelz ist nur Schmuck, etwa an der Jacke, oder der Bommel an der Mütze. Der Pelz wird nach China oder Russland exportiert, die verarbeiten ihn und verkaufen dann wieder ihre Jacken teuer hier in Norwegen.
Zischup: Was ist für dich das Schlimmste, das der Natur und den Tieren angetan werden kann?
Wahl: Es gibt hier ganz viele Jäger, genauso wie in Deutschland, die gehen nur auf Jagd, weil es total toll ist, Tiere zu töten. Es gibt in Norwegen Schussprämien für bestimmte Tierarten wie Fuchs, Krähen und Raben. Das heißt, die Jäger bekommen Geld für jedes getötete Tier. Die Stadt fordert die Jäger sogar auf, Füchse zu töten, mit der Begründung, dass der Fuchs zu viele Rebhühner frisst. Und die Rebhühner sollen ja eigentlich für die Jäger zum Schießen sein. So ähnlich verhält es sich mit dem Walfang. Die Norweger glauben tatsächlich, dass die Wale den Menschen den Fisch wegfressen. Dabei ist es eigentlich genau umgekehrt.

Zischup: Seit wann ernährst du dich vegan?
Wahl: Hmm, seit knapp zwei Jahren vielleicht, zwei Jahre davor war ich Vegetarierin.
Zischup: War es eine große Umstellung von vegetarischer Ernährung auf vegane Ernährung?
Wahl: Ich fand es zuerst schwierig, auf Käse, Milch und Co zu verzichten, denn es gab bis vor ein paar Jahren ja kaum Alternativen, was soll man denn da essen? Aber mittlerweile gibt es immer mehr, und es wird immer einfacher, sich vegan zu ernähren.
Zischup: Wie viele Tiere habt ihr jetzt eigentlich genau?
Wahl: Bei uns leben sieben Doggen, elf Katzen und eine große Anzahl an Vögeln, die in der einen Haushälfte frei herumfliegen können.
Zischup: Wenn ihr euch vegan ernährt, mit was füttert ihr dann die Hunde und Katzen? Sie können sich ja anders als wir Menschen nicht vegan ernähren.
Wahl: Die kriegen Schlachtabfälle. Hunde, und besonders Katzen, sind ja Fleischfresser – wir Menschen sind das nicht.

Zischup: Und wie kommen die vielen Katzen mit euren Doggen klar?
Wahl: Gar nicht. Die sind getrennt. Die Katzen leben in der einen Seite vom Haus, die Hunde und die Vögel in der anderen. Hier sind auch viele Vögel draußen rund herum ums Haus, wir füttern sie ja alle, sowohl die kleinen Vögel, als auch die großen, also die Adler, Krähen, Raben und Elstern. Das ist echt schön, von so viel Leben umgeben zu sein.
Zischup: Wenn du noch einmal die Wahl hättest zwischen Norwegen und Deutschland, was würdest du wählen?
Wahl: Ich würde auf jeden Fall Norwegen wählen.
Zischup: Dein Schlusswort an die Badische Zeitung?
Wahl: Alle sollten mal ihre Augen öffnen, sich ihrer Gewohnheiten bewusst werden, reflektieren und nicht nur an sich denken. Auf Fernsehen verzichten und seinen eigenen Kopf benutzen – und ganz einfach mal aus der Scheinwelt erwachen.

Ressort: Schülertexte

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