Pilotprojekt

Bundespolizei hat in Südbaden Trainer zur Gewaltprävention ausgebildet

"Stopp, lassen Sie mich in Ruhe": In einem Pilotprojekt hat die Bundespolizei in Südbaden Trainer zur Gewaltprävention ausgebildet. Bald sollen sie an Schulen zum Einsatz kommen.  

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Polizist Matthias Pawlicki erklärt den Schülern, wie sie sich gegen Gewalt wehren können. Foto: Widmann

DENZLINGEN. Lautes Geschrei im Klassenzimmer ist erlaubt, wenn Gewaltprävention auf dem Stundenplan steht. An der Grundschule in Denzlingen zeigten Polizisten jetzt in einer Lehrprobe mit den Schülern, was sie in ihrer Fortbildung gelernt hatten.

Ein ganz normaler Abend in einer kleinen Stadt in Südbaden. Gerade ist es dunkel geworden. "Alles Spackos hier", brüllt plötzlich ein Mann. Man hört, wie er seine Faust gegen eine Wand schlägt, dann kommt er um die Ecke. Sein Oberkörper ist durchtrainiert, sein Blick grimmig. Er geht auf eine Frau los, die mit gesenktem Kopf in der Nähe steht. "Ey, du Ziege", macht er sie an, "was stehst du hier, du stinkst!" Sie dreht sich weg, versucht auszuweichen. Es nützt nichts. Wenig später liegt sie am Boden, er tritt auf sie ein – und reicht ihr dann völlig unvermutet die Hand, um sie hochzuziehen und kumpelhaft zu umarmen: Alles nur gespielt. Der Mann heißt Thomas Schneider, ist Bundespolizist und Gewaltpräventionstrainer, die Frau seine Kollegin. Beider Job ist es, zu verhindern, dass Situationen derart gefährlich eskalieren.

Die beiden stehen freilich nicht an einer dunklen Straßenecke, sondern in der Aula der Grundschule Denzlingen. Vor ihnen sitzen 40 Eltern, die sich erklären lassen, was ihre Kinder am nächsten Morgen erwartet. Mit im Publikum: 15 Beamte der Landes- und Bundespolizei, die in den vergangenen drei Tagen von Schneider und seinen Kollegen zu Multiplikatoren ausgebildet worden sind. In Zukunft werden sie selbst Gewaltprävention trainieren. Wie ein Elternabend zum Thema ablaufen kann, das mitzuerleben ist schon Teil der Fortbildung. Erst recht der nächste Vormittag: In den vierten Klassen der Grundschule findet ihre Lehrprobe statt.

Schneider hat den Angreifer überzeugend gespielt, die Atmosphäre war angespannt, einige sind bei seiner Brüllerei zusammengezuckt. Jetzt, da er lacht, ist jegliche Aggressivität aus Miene und Körperhaltung verschwunden. "Keine Sorge", beruhigt er, selbst vierfacher Vater, die Eltern, "so extrem wird das bei Ihren Kindern morgen nicht aussehen."

Seit zwölf Jahren gibt Schneider Seminare zum Umgang mit und zur Abwehr von Gewalt. Vor drei Jahren waren er und sein Team in Lörrach, als der "Schulzug" der Schweizer Bahn dort Station machte. In diesem umgebauten Zug lernen Schüler, wie sie sich am Bahnhof und im Zug richtig und sicher verhalten: Was bedeutet die weiße Linie am Bahnsteig? Warum sind die Stromkabel so gefährlich? Und eben: Wie verhalte ich mich, wenn mich jemand belästigt?

Die Teilnehmer waren von den Workshops begeistert: Viele Schulen riefen bei Thomas Gerbert in der Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein an und fragten nach den Trainern, um sie einzuladen. Die aber kamen aus Rheinland-Pfalz und waren bereits im ganzen Bundesgebiet gefragt und ausgebucht. Gerbert, der auch für Kriminalprävention zuständig ist, war es leid, immer nein sagen zu müssen. Zudem beschäftigten ihn zwei drastische Fälle von Gewalt im Freiburger Hauptbahnhof. Gerade in Bussen und Bahnen, die viele Kinder und Jugendliche auf ihrem Schulweg nutzen, kommt es immer wieder zu Gewalt – von scheinbar unbedeutenden Belästigungen bis hin zu tödlichen Tritten wie im Fall von Dominik Brunner in München.

Gerbert entschloss sich, in Südbaden ein Pilotprojekt ins Leben zu rufen. Zum ersten Mal wird eine ganze Gruppe von Bundespolizisten ausgebildet. Die meisten Teilnehmer stammen aus der Region, aber auch Beamte aus Stuttgart oder Dortmund sind dabei sowie zwei Landespolizisten aus Emmendingen. Zusammen mit ihren Kollegen vom Bund werden sie von November an Schulen in der Region besuchen. Sie hoffen auf "den Beginn einer wunderbaren Freundschaft".

In den drei Tagen zuvor haben die Teilnehmer gelernt, wie sie Kindern und Jugendlichen in Rollen- und Teamspielen den richtigen Umgang mit Gewalt vermitteln können – das Thema der Lehrprobe in der Denzlinger Grundschule.

Matthias Pawlicki (43) und Christian Rathke (25), beide von der Bundespolizeidirektion Weil am Rhein, stehen im Klassenraum der 4b. Lautstark schieben 24 Schüler Tische und Stühle durch den Raum, um einen Stuhlkreis zu bilden. Zwei Mädchen üben schon mal Kung-Fu und tun so, als würden sie sich gegenseitig ins Gesicht treten. Als alle auf ihren Plätzen sitzen, spielen Pawlicki und Rathke eine Szene vor. Anders als vor den Eltern wird Rathke, das Opfer, nur herumgeschubst. Er wehrt sich nicht, blickt auf den Boden und lässt alles über sich ergehen – er verhält sich wie ein typisches Opfer. Danach sollen die Kinder das Geschehen bewerten: Daumen hoch oder runter? Die meisten zeigen nach unten. "Ich hätte mehr Mut gezeigt", sagt ein Mädchen. "Es war aber gut, dass du nicht aggressiv warst", findet ein Junge. Beides richtig, erklären die beiden Polizisten und schlüpfen noch einmal in ihre Rollen als Opfer und Täter.

Dieses Mal ist Rathke wie verwandelt. Als Pawlicki pöbelnd auf ihn zukommt, wird er sofort laut. "Stopp, lassen Sie mich in Ruhe", schreit er und hält beide Hände abwehrend vor sich. Pawlicki pöbelt noch ein wenig weiter, aber er schubst und schlägt nicht, sondern lässt ihn in Ruhe. Wieder sind die Kinder gefragt. Samuel findet das Verhalten des Bedrohten "nicht so klug". Hannah aber sagt: "Aber Samuel, schau mal, jetzt hat er gar nicht angefangen zu schlagen."

Wie man sich frühzeitig zur Wehr setzt

Damit hat sie genau erkannt, was die Kinder in dem dreistündigen Kurs lernen sollen: Gefährliche Situationen erkennen und sich zur Wehr setzen, bevor die Gewalt überhaupt einsetzt. Wie das am besten geht, zeigen die Polizisten natürlich auch: Leichter Ausfallschritt und in die Knie gehen, um einen sicheren Stand zu haben. Beide Hände vors Gesicht, Handflächen nach vorne, Ellenbogen anwinkeln – das sorgt für Abstand und schützt vor Schlägen. "Und jeder sieht sofort, dass ihr nicht wollt, dass der Täter auf euch zukommt", erklärt Rathke den Schülern, die aufgestanden sind und ihn nachahmen. Nicht alle hören dabei zu, ein paar Klassenclowns sitzen beinahe im Spagat, andere halten ihre Fäuste hoch und boxen in die Luft.

Dann kommt der wichtigste und oft schwierigste Teil: laut werden. Die ganze Gruppe übt zusammen: Auf "Eins" in den Ausfallschritt, auf "Zwei" die Arme hoch, auf "Drei" brüllen sie im Chor: "Stopp, lassen Sie mich in Ruhe!" Die Polizisten steigern das Tempo, bis alles gleichzeitig funktioniert. "Stopp, lassen Sie mich in Ruhe", schreien die Kinder immer wieder, lauter und bestimmter als zu Beginn. Gleichzeitig ist die Situation für sie in diesem Moment ein Spiel, sie lachen, mancher ruft aus Spaß einen anderen Text. "Jetzt noch mal ernst", sagt Pawlicki, aber so ganz klappt das nicht.

Immer wieder schweifen die Kinder im Gespräch ab – einer berichtet detailliert vom Einbruch in sein Elternhaus, eine andere erzählt, wie ihr Bruder auf dem Fahrrad angefahren wurde. Pawlicki und Rathke hören sich die Geschichten geduldig an, nicken und kehren dann zum Thema zurück. Einige Jungs schaffen es nicht, ihre Coolness abzuschütteln: Einer schlägt als Verteidigungsstrategie vor, dem Angreifer die Haare anzuzünden. Die Polizisten betonen bei solchen Vorschlägen immer wieder, wie unrealistisch sie sind. Ob er das kapiert hat, lässt der Junge sich nicht anmerken. Er lacht weiter.

In einem letzten Rollenspiel zeigen die Polizisten, wie wichtig es ist, andere Menschen gezielt um Hilfe zu bitten. "Sie da hinten auf dem Sofa, rufen Sie die Polizei", bindet Rathke die Klassenlehrerin mit ein. Aus dem Nebenraum, in dem drei andere frisch ausgebildete Multiplikatoren ihr erstes Seminar geben, dringt derweil lautes Gebrüll: "Stopp, lassen Sie mich in Ruhe!"

Projektleiter Gerbert und Trainer Schneider sind einverstanden mit dem, was sie gesehen haben. Pawlicki und Rathke wirken nicht ganz so zufrieden, sie sind selbstkritisch – das nächste Mal wollen sie die Schüler noch stärker einbeziehen. Sie haben gemerkt, wie sehr Kinder ein vorbereitetes Konzept durcheinanderbringen können. "Aber mit der Routine kommt dann auch die Lockerheit", dessen ist Rathke sich sicher.

Bei den Kindern jedenfalls sind sie heute schon gut angekommen. "Mir hat es gut gefallen. Ich habe gelernt, dass ich mich wehren soll", sagt Tabea, neun Jahre alt. Ihre Klassenkameradin Celine fasst den Tag in einem Wort zusammen: "Stopp!". "Noch Fragen?", wollen die Polizisten am Ende des Vormittags wissen. Ein Mädchen meldet sich: "Könnt ihr vielleicht noch länger bleiben?"

PRÄVENTIONSTRAINING

Von November an sollen die Gewaltpräventionstrainer an Schulen in der Region zum Einsatz kommen. Verantwortlich für das Programm ist Thomas Gerbert von der Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein, erreichbar unter 07628/8059-104.

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