Ein Tag des Leids und der Freude
Steinmeier ruft zu Auseinandersetzung mit dem 9. November auf.
Ulrich Steinkohl (dpa) und KNA
An keinem anderen Tag liegen in der deutschen Geschichte Glück und Unglück so eng beisammen wie am 9. November. Darauf macht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aufmerksam. Er appelliert an die Deutschen, den Tag in seiner ganzen Ambivalenz anzunehmen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, möchte den Tag hingegen als nationalen Gedenktag für die Opfer der Schoah begehen.
Der Tag steht für drei einschneidende Daten der deutschen Geschichte: Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude die Republik aus, die Monarchie war besiegelt. Der 9. November 1938 ging als Tag der nationalsozialistischen Pogrome in die Geschichte ein und steht für die Verfolgung der Juden. Und am 9. November 1989 leitete der Fall der Berliner Mauer die deutsche Wiedervereinigung ein.
Das heutige Deutschland könne nicht verstanden werden ohne die Schatten des Nationalsozialismus, des Vernichtungskrieges und der Schoah, betonte Steinmeier. Aber auch die Liebe zur Freiheit und der Mut zur Demokratie seien tief verwurzelt in der deutschen Geschichte. Aus diesen Wurzeln habe die Bundesrepublik nach 1945 wachsen können.
"Diese Ambivalenz auszuhalten, Licht und Schatten, Freude und Trauer im Herzen zu tragen, das gehört dazu, wenn man Deutscher ist", betonte Steinmeier. Beides anzunehmen, Scham und Trauer über die Opfer und Respekt und Wertschätzung für die Wegbereiter unserer Demokratie, darum müsse es gehen. "Das ist der Kern eines aufgeklärten Patriotismus. Statt Posaunen und Trompeten ein Patriotismus der leisen Töne. Statt Triumph und Selbstgewissheit ein Patriotismus mit gemischten Gefühlen."
Für das Gedenken waren auch die Spitzen der vier weiteren Verfassungsorgane in den Großen Saal von Schloss Bellevue gekommen: die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), Bundesratspräsident Bodo Ramelow (Linke) sowie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth.
Beklemmend waren die Schilderung von Margot Friedländer über den Morgen nach der Pogromnacht 1938 in Berlin. Die eben erst 100 Jahre alte Holocaust-Überlebende wurde vom Bundespräsidenten auf die Bühne geführt, der sie später einen "Segen für unser Land" nannte. Sie erzählte, wie ihr die Leere der Straße aufgefallen sei, auf der nur "Männer mit den verhassten braunen Uniformen" in kleinen Gruppen vor zerstörten jüdischen Geschäften herumstanden. Friedländer berichtete von Angst, Ratlosigkeit und Ohnmacht und sagte mit stockender Stimme: "Wir wussten, das ist der Anfang von viel Schlimmerem, was noch kommen wird."
Steinmeiers Versuch, eine neue Gedenkkultur um den 9. November zu etablieren, blieb nicht unwidersprochen. Der Zentralrat der Juden und das Auschwitz-Komitee meldeten Bedenken an. Das Internationale Auschwitz Komitee sprach sich für einen Tag des Gedenkens an die Pogrome am 9. November aus. Zentralratspräsident Josef Schuster äußerte in einer Presseerklärung Skepsis gegenüber Forderungen, am 9. November mehrerer historischer Ereignisse gleichzeitig zu gedenken. Er schlug vor, den Tag zu einem nationalen Gedenktag für die Opfer der Schoah zu machen. Schuster erklärte, auch für die jüdischen Gemeinschaften sei der Mauerfall 1989 ein glückliches Ereignis gewesen. Doch stehe die Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 für die jüdische Gemeinschaft und auch viele nicht-jüdische Deutsche weiter im Zentrum des Gedenkens am 9. November. Zudem sieht Schuster mit Sorge, dass das Wissen um die Pogrome zurückgeht.
HINTERGRUND
Die Ambivalenz des 9. November
» 1918: Die Niederlage der Deutschen im Ersten Weltkrieg führte im Herbst 1918 zu Unruhen im ganzen Deutschen Reich, die als Novemberrevolution bezeichnet werden. Die Menschen forderten Frieden und das Ende der Monarchie. In vielen Städten bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. Am 9. November, nach der Abdankung des Kaisers, rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus die erste deutsche Republik aus. Er kam damit dem Kommunisten Karl Liebknecht zuvor, der wenig später am Berliner Schloss die "freie sozialistische Republik Deutschland" ausrief. Zwei Tage später wurde das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, das den Krieg beendete. Die Weimarer Republik bestand bis 1933.
1938: In der Nacht vom 9. auf den 10. November organisierten Verbände der nationalsozialistischen SA und der SS gewalttätige Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Die Polizei schritt nicht ein. Etwa 100 Juden wurden allein in dieser Nacht ermordet. Die Nazis brannten 1200 Synagogen nieder, zerstörten mindestens 8000 jüdische Geschäfte und verwüsteten Tausende von Wohnungen. In den Tagen darauf wurden 30 000 jüdische Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Die Reichspogromnacht wurde in der Bundesrepublik lange verharmlosend als "Kristallnacht" bezeichnet.
1989: Vor dem Hintergrund von Massenprotesten und der Öffnung der ungarischen Grenze für Tausende DDR-Bürger verkündet DDR-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am Abend des 9. November auf einer Pressekonferenz in Berlin überraschend die Öffnung der Grenzen. Die neue Reiseregelung für DDR-Bürger trete "sofort" in Kraft. Daraufhin strömten Tausende Ostberliner an die Grenzübergänge der geteilten Stadt. Kurz vor Mitternacht konnten die DDR-Grenzbeamten am Übergang Bornholmer Straße dem Andrang nicht länger standhalten und öffneten den Übergang. Die Mauer war gefallen.