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"Er war außer sich vor Wut"

  • Wiebke Ramm & dpa

  • Mi, 17. Juni 2015
    Panorama

Der Richter sieht im Fall Tugce Albayrak Wiederholungsgefahr und verurteilt den Angeklagten zu drei Jahren Haft.

Eine Freundin von Tugce trauert am Dienstag vor dem Landgericht in Darmstadt.   | Foto: dpa
Eine Freundin von Tugce trauert am Dienstag vor dem Landgericht in Darmstadt. Foto: dpa

DARMSTADT. Im Prozess um den Tod von Tugce Albayrak hat das Gericht den Angeklagten zu drei Jahren Gefängnis wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Sanel M. habe die Studentin schlagen wollen. Ihren Tod habe er nicht gewollt.

Dogus Albayrak schüttelt den Kopf. Sein Kiefer malmt. Tränen stehen ihm in den Augen, aus denen er voller Unverständnis zum Vorsitzenden Richter blickt, der in diesem Moment von der Reue des Angeklagten Sanel M. spricht. Die Worte des 18-Jährigen, dass es ihm leidtue, was er der Familie angetan habe, "schienen uns durchaus aufrichtig gemeint", sagt Richter Jens Aßling. Weiter sagt er: "Auch Sanel M. muss mit der Tat klarkommen." Dogus Albayrak, Tugces Bruder, kann diese Sätze nur schwer ertragen. Mutter Sultan weint immer wieder leise oder starrt wie ihr Mann Ali vor sich hin.

Die Jugendkammer des Landgerichts Darmstadt verurteilt Sanel M. wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu drei Jahren Jugendstrafe. Aus Sicht des Gerichts hat Sanel M. Tugce Albayrak am 15. November 2014 um kurz nach vier Uhr morgens auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants im hessischen Offenbach mit voller Absicht geschlagen. Er habe die tödlichen Folgen seines Schlages vorhersehen können, ihren Tod aber habe er nicht beabsichtigt (siehe Hintergrund).

Der Angeklagte sei kein Killer, sagt der Richter

"Die Eltern haben den schlimmsten Verlust erlitten, den man sich nur vorstellen kann. Sie haben ihre Tochter verloren. Dies ist durch kein Urteil der Welt auszugleichen", sagt der Richter. Er versucht, die Eltern darauf vorzubereiten, dass es in dem Urteil um die Zukunft des Angeklagten gehen wird. "Uns ist bewusst, dass es für Ihre Tochter keine Zukunft gibt." Im Strafprozess aber geht es um den Täter, dessen Schuld das Gericht zu wiegen hat.

Richter Aßling rügt die "extreme Vorverurteilung" in den Medien, die einen knapp 18-Jährigen als "Killer, Totschläger, Koma-Schläger" gebrandmarkt hätten, "was er nicht ist".

Nach Ansicht des Gerichts ist es in dem Schnellrestaurant früh zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen der Gruppe um Sanel M. und der Gruppe um Tugce Albayrak gekommen. Zu einer ersten Konfrontation des 18-Jährigen mit der 22-jährigen Studentin kam es im Bereich der Damentoilette. Tugce Albayrak wollte dort zwei Mädchen helfen, die von Sanel M. und zwei Freunden belästigt wurden. Es kam zum Streit. Im Restaurant hatte sich die Situation zunächst wieder beruhigt. Erst draußen eskalierte es. Beleidigungen seien hin und her gegangen.

Sanel M. ging zum Auto. Warum er wieder ausstieg, blieb für das Gericht unklar. Ein Freund versuchte mehrfach, Sanel M. festzuhalten. Auch nach Auffassung des Gerichts stand Sanel M. dann Tugce Albayrak zunächst gegenüber, ohne handgreiflich zu werden. Anders als die Staatsanwaltschaft und alle anderen Prozessbeteiligten sieht das Gericht auf dem Überwachungsvideo, dass Sanel M. mehrfach Ausholbewegungen mit dem Arm machte. Dann sei Tugce Albayrak "vier, fünf Schritte" auf Sanel M. zugegangen. Sanel M. schlug zu. Es war nicht bloß eine Ohrfeige, sagt der Richter: "Sanel M. war außer sich vor Wut. Er wollte ihr ordentlich eine langen, das wollte er, ganz sicher. Was dann folgte, wollte er sicher nicht." Tugce Albayrak fiel um, knallte mit ihrem Kopf auf den Asphalt und erlitt tödliche Hirnverletzungen. Sie fiel ins Koma. An ihrem 23. Geburtstag stellten die Ärzte die Maschinen ab.

Sanel M. ist kurz vor der Tat 18 Jahre alt geworden, weswegen das Gericht für ihn Jugendstrafrecht anwendet. Auch seine Biografie sei die "eines unausgereiften Menschen": mehrere Schulwechsel, kein Ausbildungsplatz, wenig Eigeninitiative. Er hat vier Einträge im Vorstrafenregister: Diebstahl, gefährliche Körperverletzung, gemeinschaftliche räuberische Erpressung und besonders schwerer Diebstahl. Aßling sieht für Sanel M. keine günstige Sozialprognose, dafür jede Menge Erziehungsdefizite. Vor allem aber sieht das Gericht eine Wiederholungsgefahr. Sanel M. mangele es an Empathie. Er neige zu Gewalt, selbst durch seine Freunde habe er sich nicht aufhalten lassen. "Wir fürchten, wenn er jetzt einfach so wieder in Freiheit kommt, dass er relativ schnell in alte Verhaltensmuster und seinen Freundeskreis zurückfällt, der sich hier nicht unbedingt rühmlich gezeigt hat."

Die Familie äußerte sich nicht zum Strafmaß. Ihr Anwalt sagt: "Jetzt besteht die Chance, eine Zäsur in seinem Leben zu setzen. Sein Leben kann man noch retten. Das von Tugce nicht mehr."

Ressort: Panorama

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