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"Man muss ihnen erst einmal Zeit geben anzukommen"

  • bzt

  • Fr, 29. April 2022
    Schülertexte

ZISCHUP-INTERVIEW mit Marion Gentges, baden-württembergische Ministerin der Justiz und für Migration, über die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter.

Ministerin Marion Gentges und Zischup-Reporterin Anna Leuchter  | Foto: Privat
Ministerin Marion Gentges und Zischup-Reporterin Anna Leuchter Foto: Privat

Als Justizministerin von Baden-Württemberg ist Marion Gentges gleichzeitig Ministerin für Migration. Am 18. März besuchte sie die am Vortag errichtete Landeserstaufnahmestelle (LEA) für Geflüchtete in Offenburg für bis zu 500 Menschen. Die LEA wurde von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk (THW), Rotem Kreuz, Maltesern, dem Regierungspräsidium und der Stadt Offenburg errichtet. Als Leiter des THW in Südbaden war Christian Leuchter bei dem Besuch der Ministerin am 18. März vor Ort. Seine Tochter, Zischup-Reporterin Anna Leuchter aus der Klasse 8a des Kollegs St. Sebastian in Stegen, durfte Gentges dort interviewen.

Zischup: Was plant das Ministerium, um den Flüchtlingen zu helfen?
Gentges: Wir schauen zunächst, dass sie hier eine erste Anlaufstelle finden, dass wir sie aufnehmen und die erforderlichen Verfahren durchführen. Von hier gehen sie in aller Regel weiter in die Stadt- und Landkreise, also bei uns in den Ortenaukreis und dann weiter in verschiedene Gemeinden. Die Menschen haben Schlimmes erlebt, häufig sind die Väter oder Ehemänner in der Ukraine geblieben, da ja Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen, weil sie es verteidigen sollen. Da machen die Frauen und Kinder sich große Sorgen. Viele brauchen alleine deshalb psychologische Betreuung, die Kinder brauchen eine Betreuung in Form von Schulunterricht, Kindergarten und Sprachkursen. Die Menschen dürfen hier in Deutschland auch gleich arbeiten. Es gibt ganz viele Stellen, die ihnen da helfen können.
Zischup: Was macht ein Erstaufnahmezentrum?
Gentges: Im Grunde geht es darum, dass die Menschen ankommen können, dass sie getestet und registriert werden, damit man auch weiß, wer sie sind. Es gibt auch eine medizinische Untersuchung, um zu schauen, ob jemand Erkrankungen hat und man ihn behandeln muss. Neben der Unterbringung und Versorgung mit Essen und Trinken wird auch die Betreuung der Kinder organisiert.
Zischup: Gibt es nochmal besondere Maßnahmen für Kinder und wie ist es dann in der Schule mit den Flüchtlingen?
Gentges: Die Kinder haben einen Anspruch auf Bildung. Jetzt versucht man, das zu organisieren. Sie haben alle schlimme Sachen erlebt, sodass man sie nun erst einmal zur Ruhe kommen lassen und ihnen Zeit zum Ankommen geben muss. Dann wird man wahrscheinlich schauen, dass man Betreuungsangebote macht, gerade auch für die Kleineren. In den Erstaufnahmeeinrichtungen sollen die Menschen ja nicht allzu lange sein, denn in den Hallen hat man zwar ein Dach über dem Kopf und da passiert einem nichts, aber viel mehr bietet es einem nicht. Es ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Ich habe kürzlich ein Ankunftszentrum auf der Schwäbischen Alb besucht. Da haben wir ein Haus mit Klassenräumen für Schulunterricht und einem großen Raum, der für die Betreuung von Kleineren eingerichtet ist. Da kann man schon mal Betreuung anbieten oder ein wenig Schulunterricht. Es kommen ja ganz viele Kinder mit ihren Müttern und da werden auch welche dabei sein, die sich mit Kinderbetreuung auskennen oder die Lehrerinnen sind und mit denen man vor Ort schon ein wenig machen kann. Es geht ja nicht nur darum, dass man da etwas lernt, sondern dass man auch ein wenig Alltag hat. Dass man morgens weiß, warum man aufsteht, dass man Aufgaben hat, dass der Tag Struktur hat.
Zischup: Gehen die Mütter, die ukrainische Lehrerinnen sind, auch mal mit an die Schulen, um zu helfen?
Gentges: Das gibt es vielleicht mal. Aber das sind noch nicht so viele Mütter. Wir versuchen, in den einzelnen Gemeinden einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem man Kinderbetreuung oder Musikunterricht anbieten kann. Da können uns natürlich die Mütter helfen, die Erzieherinnen oder Lehrerinnen sind. Die haben dann auch gleichzeitig eine Aufgabe. Nach der Flucht und den schlimmen Erlebnissen tut es gut, wenn man etwas zu tun hat, wenn man ab und zu die Gedanken woanders hat.
Zischup: Mit welchen weiteren Flüchtlingszahlen rechnen sie jetzt noch?
Gentges: Das kann man ganz schwer vorhersagen. Es gibt Schätzungen vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, dass insgesamt vier Millionen Menschen die Ukraine verlassen könnten. Die Kommission der Europäischen Union meint, es können sogar acht Millionen werden. Viele kommen in Nachbarländern unter, ganz viele davon in Polen. Andere gehen zu Verwandten und Freunden, das kann ich gut verstehen. Wenn man in einer so schwierigen Situation ist und fliehen muss, geht man am liebsten dorthin, wo man jemanden kennt, zu dem man Vertrauen hat und wo man sich aufgehoben fühlt. Es gibt in Europa in verschiedenen Ländern Menschen, die aus der Ukraine stammen, sehr viele in Italien und Spanien. Deshalb glaube ich, dass da einige hinwollen. Viele sagen auch, sie wollen möglichst in der Nähe der Heimat bleiben, weil sie die Hoffnung haben, bald wieder nach Hause zu können. Insofern ist es ganz schwer zu sagen wie viele Menschen zu uns nach Baden-Württemberg kommen werden.

Marion Gentges (50) sitzt seit 2016 für die CDU im Landtag von Baden-Württemberg. Sie vertritt den Wahlkreis Lahr. Seit Mai 2021 ist sie baden-württembergische Ministerin der Justiz und für Migration.

Ressort: Schülertexte

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