Nachdenklich in der Nacht der Nächte

Berlin feiert den 30. Jahrestag des Mauerfalls / Anders als noch vor fünf Jahren nehmen Warnungen vor einer neuen Spaltung des Landes großen Raum ein.  

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Der Himmel über Berlin war hell erleuchtet zum Abschluss der Feiern zum Mauerfall. Foto: TOBIAS SCHWARZ (AFP)
Vielleicht ist ja alles nur wegen der "Hieroglyphen" so gekommen. Die Museumswärterin im "Tränenpalast", der Ausreisehalle des Grenzbahnhofs Friedrichstraße inmitten Berlins, meint nicht ägyptische Schriftzeichen, sondern die Sauklaue von Günter Schabowski. Der Spickzettel des früheren DDR-Politbüromitglieds, auf dem als letzter Punkt das Verlesen neuer Reiseregelungen notiert war, die unter dem Druck der friedlichen Massenproteste ausgearbeitet worden waren, ist erstmals in Berlin ausgestellt. Die Besucher bekommen ein Gefühl dafür, warum Schabowski so ratlos in seine Unterlagen blickte, als er nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens gefragt wurde. "Nach meiner Kenntnis ist das", so lautete am 9. November 1989 um 18:53 Uhr seine historische Antwort, "sofort, unverzüglich."

Die schwedische Journalistin Ingrid Thörnqvist ist live dabei gewesen – in der ersten Reihe. Zum Mauerfalljubiläum ist sie wieder in der Stadt, studiert Schabowskis Zettel und erinnert sich an die Unklarheit nach dessen Auftritt: "Keiner wusste, was die Neuregelung bedeutet, Ausreisen sollten ja beantragt werden müssen."

Am Checkpoint Charlie merkte sie dann, wie dem Regime in wenigen Stunden komplett die Kontrolle entglitt. Es konnte auf den Andrang der Massen, die aus Radio und Fernsehen von den Neuigkeiten erfuhren und an die Grenzübergänge strömten, nur noch mit der vollständigen Öffnung reagieren. Der Einsatz von Gewalt blieb aus, die Mauer war gefallen. "Es war eine unglaubliche Nacht großer Gefühle", sagt Ingrid Thörnqvist, "die Bilder berühren mich immer noch sehr."

Sie sind an diesem Jubiläumssamstag allgegenwärtig in Berlin. Die Bilder von Schabowskis Pressekonferenz werden überlebensgroß auf die Gebäudefassaden am Alexanderplatz projiziert, während der abendlichen Festlichkeiten am Brandenburger Tor sind auf einer riesigen Videokugel DDR-Bürger zu sehen, die über den Grenzübergang an der Bornholmer Straße drängten und das erste Loch in die Mauer rissen. Aus nah und fern sind Menschen gekommen, um sich der Nacht zu erinnern, die aus dem deutschen "das glücklichste Volk der Welt" gemacht hat, wie Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper damals sagte.

Lutz Eisfeld ist aus Bernburg in Sachsen-Anhalt angereist. Er steht an der Bernauer Straße, wo einst seine Großmutter wohnte und an diesem Tag die politischen Feierlichkeiten stattfinden. Er weiß nicht recht, was er von der großen Erinnerungsshow halten soll. Einerseits geht es auch um sein Leben, die Augen leuchten, wenn er erzählt, wie am 9. November 1989 jemand in seine Gaststätte kam, von der offenen Mauer erzählte und nur ungläubiges Kopfschütteln erntete. Anderseits überkommt ihn "das Gefühl, dass Gedenktage die Spaltung von damals neu zementieren". Eisfeld ist von der Friedrichstraße hergelaufen, vergleicht das heutige Antlitz der Stadt mit dem damaligen Weg zur Oma und ist beeindruckt: "Wir sollten lieber unsere gemeinsame Erfolgsgeschichte erzählen und weniger beklagen, was wir noch nicht geschafft haben."

Die Botschaft des Festakts passt eher zu diesem grauen Vormittag. Kein Redebeitrag ist zu hören, in dem sich die große Freude über 1989 nicht mit großen Sorgen über die Lage 2019 vermischt. Die Repräsentanten des wiedervereinigten Deutschland und die Präsidenten Polens, der Slowakei, Tschechiens und Ungarns, deren Bürgerrechtsbewegungen die Vorarbeit für den Mauerfall leisteten, sind an die Hinterlandmauer des letzten Todesstreifens gekommen. Unter dem für die Gedenkstätte Berliner Mauer erhaltenen Wachturm hören Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel von Jugendlichen aus acht europäischen Staaten, wie dankbar sie für ihre Freiheit sind, die sie zugleich für bedroht halten. "Ich gehöre zur Generation, die sich nicht daran erinnert, dass Tschechien nicht Teil der Europäischen Union war", erzählt die 17-jährige Lucie Vanova aus der Nähe von Prag: "Ich wünsche mir, dass keine Mauer Europa erneut teilt." Was sie und die anderen Teenager meinen, ist klar: Der Umgang mit Zuwanderern hat radikalen Rechten Zulauf beschert, einzelne Länder und die EU politisch gespalten.

Angela Merkel, die seit dem Herbst 2015 im Zentrum dieses Streits steht, spricht nur wenig über den Glückstag selbst. Natürlich dankt sie den friedlichen Revolutionären, die auch den Lebensweg der Kanzlerin entscheidend verändert haben. Sie erinnert an die Opfer des DDR-Regimes, auch jene, "die unterdrückt wurden und ihre Träume begraben mussten". Sie redet über die Pogromnacht 1938, als in Nazi-Deutschland Feuer an die Synagogen gelegt wurde – und schlägt die Brücke zur Gegenwart, zu der das Attentat von Halle ebenso gehört wie der Thüringer Wahlerfolg des Mannes, der eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" fordert: "Der 9. November", so die Kanzlerin, "ermahnt uns, dass wir Hass, Rassismus und Antisemitismus entschlossen entgegentreten müssen."

Die Kanzlerin schließt mit dem Gedicht "Die Mauer" von Reiner Kunze: "Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns. Wir hatten uns gewöhnt an ihren Horizont und an die Windstille." In der Freiheit stürmt es, und Merkel, die schon in einem Interview zum Jahrestag das schwer zu beeinflussende Leben in der DDR als "fast bequem" bezeichnet hat, appelliert an die Ostdeutschen, diese Freiheit endgültig anzunehmen. "Nun stehen wir entblößt jeder Entschuldigung", schließt der Dichter, "aufgefordert, das Unsere für Freiheit und Demokratie zu tun", ergänzt Merkel.

"Neue Mauern" sind Anlass zur Sorge

Eingeladen zur Zeremonie ist auch der Stuttgarter Burkhart Veigel. Der 81-Jährige kam kurz nach Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 als Student nach West-Berlin, wurde zum Fluchthelfer und dafür spät, 2012, mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Mit nahezu perfekt gefälschten Pässen und einem umgebauten Cadillac holte er rund 650 DDR-Bürger in die Freiheit. Er versteckte die Republikflüchtlinge hinterm Armaturenbrett. Die Erinnerung an den Mauerfall bewegt den Mann, der 2007 wieder nach Berlin zog, noch sehr. "Entsetzlich" findet er, was sich alles verändert hat in den fünf Jahren seit dem 25-jährigen Jubiläum: "Da war noch so viel Optimismus da."

Als die Dunkelheit hereinbricht und vor 30 Jahren die "Nacht der Nächte" begann, von der Steinmeier am Brandenburger Tor spricht, beschränkt auch er sich nicht auf die "Sternstunden von damals". "Quer durch unser Land sind neue Mauern entstanden", stellt das Staatsoberhaupt fest, "Mauern aus Wut und Hass." Er macht Mut mit dem Hinweis, dass sie gemeinsam eingerissen werden könnten: "Ich wünsche mir, dass wir etwas von dem Mut, der Zuversicht und dem Selbstbewusstsein jener Tage des Mauerfalls in unsere Zeit heute holen."

Trotz des Feuerwerks am Schluss ist überschäumende Freude nicht das Motto des 30. Mauerfall-Jubiläums geworden, Nachdenklichkeit dominiert. Erst spät am Abend beweisen die Berliner, dass sie es noch krachen lassen können. Mit Bier und Schampus versammeln sich viele Menschen auf der Brücke an der Bornholmer Straße und jubeln den Autos, die sie passieren, zu – den Trabis besonders.
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