Buch in der Diskussion

Putin wird seine Ziele nicht aufgeben

Klaus Leisinger

Von Klaus Leisinger

Mi, 08. Februar 2023

Literatur & Vorträge

Vittorio Hösle hat früh vor einem Krieg Russlands gewarnt. Der Philosoph wirft Europa Schwäche vor.

Vittorio Hösle ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Philosophen und ein Kenner Russlands. Schon Jahre vor dem 24. Februar 2022 hat er darauf aufmerksam, dass die russische Regierung ihre Bevölkerung rhetorisch auf einen Krieg vorbereitete. Sein neues Buch ist ein gewichtiger Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion über den Ukrainefeldzug.

Es gehe bei dem Angriffskrieg zwar prinzipiell um kulturelle Anerkennung und Wertekonflikte, die machtpolitische Interessensgegensätze überlagern. Als Auslöser sieht Hösle jedoch die Furcht der russischen (und belarussischen) Machthaber, der in der Ukraine begonnene Demokratisierungsprozess könne auf andere Länder überschwappen und sie ihre Privilegien oder gar ihr Leben kosten.

Ein Machtpolitiker wie der russische Präsident Wladimir Putin habe die schwachen Reaktionen des Westens auf die massive Gewalt und den Bruch des Völkerrechts im Krieg gegen Georgien, auf die Annexion der Krim sowie auf die Unterstützung der Sezessionisten in der Ostukraine zur Kenntnis genommen.

Sie verleiteten Putin zu der Annahme, auch ein großer Krieg gegen die Ukraine werde höchstens zu verbalem Protest des Westens führen. Die hilflose Flucht des Westens aus Afghanistan vermittelte auch nicht gerade das Bild guter Aufklärung, geschweige denn militärischer Brillanz. Auch die jahrzehntelangen Versäumnisse Deutschlands, aber auch anderer Länder, ihre Landesverteidigung durch entsprechende Investitionen zu sichern, blieben den Analysten des Kremls nicht verborgen.

Unter den vielen Fehlern, die Vittorio Hösle den westlichen Regierungen und insbesondere der deutschen vorwirft, ist die Tatsache, dass man sich Sand in die Augen habe streuen lassen, weil es bequemer war, nicht zu sehen, was sich da langsam, aber unweigerlich vorbereitete, und was einerseits eine Aufrüstung, andererseits ein Zurückfahren der Energieabhängigkeit von Russland verlangt hätte.

Es sei naiv zu glauben, so Hösle, dass Putin seine Pläne aufgeben werde. Er wolle austesten, wie lange die Einheit des Westens unter wirtschaftlichem Stress halte. Die große Leidensfähigkeit der Russen verbuche der Zyniker als entscheidenden Vorteil. Die aggressiv nationalistische Ideologie mache das heutige Russland gefährlicher als die alte Sowjetunion.

Vom UN-Sicherheitsrat erwartet Hösle wegen des Vetorechts Russlands keine Lösung. Ein zielführender Ansatz müsse die heutige Realität Russlands ohne Verklärung der Vergangenheit und ohne Wunschdenken zur Kenntnis nehmen und mit einer klugen Mischung von militärischer Abschreckung und politischen Verhandlungen arbeiten. Der Preis für Putins Aggression müsse sich so erhöhen, dass die Herrschaft des Despoten von innen in Frage gestellt werde.

Hösle nennt in diesem Zusammenhang eine Reihe wirtschaftlicher, politischer, diplomatischer, aber auch militärischer Maßnahmen. Putins Macht beruhe zum großen Teil auf seiner Wahrnehmung der Furcht der anderen – deshalb drohe er mit dem Einsatz von Atombomben. "Nur wenn die Nato über genügend kampfbereite Soldaten verfügt, um einen Angriff abzuwehren, ist sie davor gefeit, dass Putin noch über die Ukraine hinausgreift," schreibt Hösle.

Hösle hält einen gerechten Krieg als ultima ratio mit überzeugenden Begründungen für legitim, auch die Unterstützung des zu Unrecht Angegriffenen. Der Aggressor müsse einen Preis bezahlen, "auch wenn das nicht bedeutet, dass man bis zum eigenen Untergang zu kämpfen habe". Daher verteidigt er die Strategie des Westens, der Ukraine durch Waffenlieferungen, militärische Ausbildung und nachrichtendienstliche Informationen zu helfen. Sie sei moralisch statthaft, weil die Ukrainer bereit seien, für ihre Freiheit zu sterben – und damit auch für die unsere.

Hösle befürwortet einen EU-Beitritt der Ukraine — allerdings "gründlich vorbereitet und nur nach Erfüllung zentraler Bedingungen" – und die Gewährung von Asyl für desertierte russische Soldaten. Er hält auch eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato für denkbar, da sie die Wiederherstellung der ehemaligen Sowjetunion durch Gewalt unmöglich mache.

Hösles Urteil, dass ein "Ende der Geschichte" durch eine nukleare Selbstauslöschung im 21. Jahrhundert wahrscheinlicher ist als ein Ende des Totalitarismus im Sinne Francis Fukuyamas, ist beunruhigend, seine Prognose ist düster: "Die nächsten Jahre werden schwierig sein und vielleicht katastrophal enden."

Vittorio Hösle: Mit dem Rücken zu Russland. Verlag Karl Alber,Baden-Baden 2022. 158 Seiten, 19 Euro.