Existenzielle Nöte

Schuldnerberatungen in Südbaden können Ansturm nicht mehr bewältigen

Annika Vogelbacher

Von Annika Vogelbacher

So, 12. März 2023 um 08:53 Uhr

Geld & Finanzen

In Südbaden erleben die Schuldnerberatungen derzeit eine extrem hohe Nachfrage. Und der Beratungsbedarf wird wohl in den kommenden Monaten noch zunehmen.

"Es ist wirklich entsetzlich, wenn hier eine Familie klingelt, die sich nichts mehr zu Essen leisten kann", sagt Sonja Steiger, Leiterin des Fachbereichs Familie und Leben der Diakonie in Lörrach, bei der die Schuldnerberatung angesiedelt ist. Solche Fälle seien zurzeit nicht selten. "Wir haben fast täglich Anfragen aufgrund von Überschuldung oder Verschuldung", sagt Steiger. Seit diesem Jahr verzeichne ihre Stelle einen Anfragen-Anstieg von über 40 Prozent. "Wir können nur noch zehn bis 15 Prozent abdecken", sagt Steiger.

Der Trend zeichnet sich auch deutschlandweit ab: 65 Prozent der Schuldnerberatungsstellen erleben im Vergleich zum Vorjahresbeginn eine höhere Nachfrage – obwohl die bereits seit zwei Jahren ansteigt. Das teilt die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) mit, in der Anbieter sozialer Schuldnerberatungen organisiert sind. Bei 16 Prozent sei die Nachfrage sogar um 30 Prozent höher als vor zehn Monaten.

In Lörrach gibt es nur noch Beratungen bei existenziellen Nöten

Aufgrund des großen Andrangs berät die Lörracher Schuldnerberatung fast nur noch Klientinnen und Klienten mit existenziellen Nöten. Darunter seien immer mehr Erwerbstätige und junge Menschen sowie Rentner. "Existenzielle finanzielle Nöte kommen mehr und mehr in der Mitte der Gesellschaft an", sagt Steiger. Erschwerend hinzu kommt, dass die wenigsten seit den gestiegenen Energiekosten die Energiekostenabrechnung des vergangenen Jahres erhalten haben. "Die werden einschlagen", ist sich Steiger sicher. "Wir haben die Spitze noch nicht erreicht."

"Existenzielle finanzielle Nöte kommen mehr und mehr in der Mitte der Gesellschaft an." Sonja Steiger, Diakonie Lörrach
Bereits jetzt arbeitet die Beratung am Anschlag. Ihre Warteliste hat sie mittlerweile gestrichen. "Irgendwann waren wir bei 180 Warteplätzen", sagt Roland Meier, Schuldnerberater in Lörrach. Nun werde bei jeder Anfrage abgewogen, wie schwerwiegend das Anliegen ist und wann ein Termin freigeschaufelt werden kann. "Wir sind chronisch unterfinanziert", sagt Steiger. Allein in Lörrach bräuchte es zehn Stellen, um allen Anfragen gerecht werden zu können.

Schwerwiegende Fälle häufen sich

Eine Beratungsstelle kann Berechtigungsscheine für die Tafel ausstellen. Doch die Lörracher Tafel musste seit November vergangenen Jahres einen Aufnahmestopp durchsetzen. Als Grund nennt Tafel-Leiterin Angelika Kiefer die vielen Neukunden aus der Ukraine.

"Die Freiburger Tafel ist keine Alternative mehr", sagt Sladana Wehrle-Paradzik, Schuldnerberaterin bei der Caritas in Freiburg. "Früher konnten die Klienten da gut für zwei Tage Lebensmittel bekommen und eine Notsituation überbrücken", sagt sie. "Wenn ich heute jemanden hinschicke, berichtet er mir, dass er drei Stunden anstehen musste und dann nur zwei Äpfel und ein Päckchen Nudeln bekommen hat." Deshalb vergebe sie jetzt im Notfall eher geringe Gutscheine für Discounter. Denn auch bei Wehrle-Paradzik häufen sich die Fälle mit existenziellen Sorgen – trotzdem, dass die Stelle nur von Erwerbstätigen in Anspruch genommen werden kann. "Die Problematik hat sich im letzten dreiviertel Jahr verstärkt", sagt auch sie.

Auslöser sei die Erhöhung der Mietnebenkosten um 100 bis 150 Euro Mitte vergangenes Jahres gewesen, die zu den allgemein gestiegenen Kosten hinzukommen.

In der AG SBV-Umfrage wird als größte Schuldenproblematik "Pfändung von Staatshilfen" genannt. Dass zu viel Geld vom Jobcenter ausgezahlt wird, ist keine Seltenheit, sagt Wehrle-Paradzik. "Auf dem Jobcenter werden Bescheide, die kein Normalsterblicher versteht, nicht erklärt", sagt sie. Das führe dazu, dass oft zu viel Geld beantragt und ausgezahlt werde. "Ein weiteres Problem ist, dass beim Jobcenter Post oft verschwindet." Irgendwann tauche die Post mit den Einkommensbescheiden wieder auf. Erst dann werde klar, dass zu viel ausgezahlt wurde, und das Jobcenter verlange das gezahlte – und meist schon ausgegebene – Geld wieder zurück. "Der Staat ist dann schnell im Vollstrecken", sagt Wehrle-Paradzik.

Der Landkreistag weiß nichts von verschwundenen Briefen und regelmäßig überhöhten Auszahlungen. Er verweist auf Hinweisblätter, Erklärvideos und Beratungsangebote.

Besonders schwierig sei die Lage derzeit für auf Wohngeld angewiesene Haushalte. "Ich habe Klienten, die haben 2021 ihren Wohngeldantrag gestellt und haben noch immer keinen Bescheid", sagt Wehrle-Paradzik. "Das Haarsträubende ist, dass am Wohngeld so viel hängt." Die Kostenübernahme für Kitas und Schulessen etwa. "Die Wohngeldstelle ist komplett überlastet", sagt Wehrle-Paradzik.

Warnung vor kostenpflichtigen Online-Beratungen

Zu Beginn dieses Jahres wurde das Wohngeld reformiert. Fast drei Mal so viele Haushalte sind nun empfangsberechtigt. "Dass die groß angelegte Wohngeldreform nicht ruckelfrei läuft, war zu befürchten", schreibt der Landkreistag. Ende 2022 sei begonnen worden, nach Personal zu suchen. "Freilich gilt auch hier, dass nicht alle freien Stellen in der ersten Runde besetzt werden können, weil der Markt an Fachkräften leergefegt ist", so der Landkreistag.

Die Stadt Freiburg sei nun dazu übergegangen, dass ein Hinweis auf einen gestellten Wohngeldantrag ausreiche, damit es zu keiner Vollstreckung etwa der Kindergartenkosten mehr komme, sagt Wehrle-Paradzik.

Auch die Freiburger Beraterin blickt pessimistisch auf die Zeit der Energiekostenabrechnungen. "Wir rechnen mit einem riesigen Ansturm", sagt sie. Auch dann werde sie weiter versuchen, Darlehen auszuhandeln, Lösungen mit Vermietern zu finden, über Stiftungen und Spenden an Gelder zu kommen und so vielen Menschen so schnell wie möglich zu helfen.

Für Leute mit Geldsorgen, rät Roland Meier, die Haushaltsplanung zu überprüfen und jeden Posten auf seine Notwendigkeit zu überprüfen. "Im schlimmsten Fall gibt es auch mal die Möglichkeit Geld zu bekommen", sagt Sonja Steiger. Die evangelische Landeskirche habe wegen der Kostensteigerungen Gelder zur Verfügung gestellt. "Erfreulich ist, dass das Land momentan Energiesprechstunden fördert", sagt Steiger. Die finden bis Mitte des Jahres mittwochs in Schopfheim zwischen 16 bis 18 Uhr und freitags in Lörrach von 13 bis 15 Uhr statt.

Trotz der Wartezeiten raten die Beratungsstellen von kostenpflichtigen Online-Schuldnerberatungen ab. Dort würden die Kosten häufig nicht transparent gemacht. Am Ende seien die Betroffenen oft nicht schuldenfrei, müssten aber den Anbietern viel Geld zahlen.

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