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Eine Klasse für sich

Dorothee Soboll
  • Sa, 31. Oktober 2015
    Südwest

An der Freiburger Karlschule lernen Kinder auch aus Flüchtlingsfamilien Deutsch – und werden so auf den regulären Unterricht vorbereitet.

Klassenlehrerin Silvia Wagner bringt d...hildern die unregelmäßigen Verben bei.  | Foto: Dorothee Soboll
Klassenlehrerin Silvia Wagner bringt den Schülern mit selbst gestalteten Pappschildern die unregelmäßigen Verben bei. Foto: Dorothee Soboll
Die Glöckchen des bunten, mit Watte gefüllten Stoffballs klingen leise, als er durch das Klassenzimmer fliegt. Die kleine Aylin* fängt ihn auf, der fragende Blick aus ihren großen, dunklen Augen trifft den der Lehrerin Silvia Wagner. Das Mädchen sagt nichts. Wagner lächelt, sagt "Januar" und streckt die Hände aus. Aylin bleibt stumm. Sie scheint aber zu verstehen, dass sie den Ball zurückwerfen soll. Als sie ihn losgeworden ist, wirkt sie erleichtert. Wagner wirft den klingelnden Ball einem anderen Schüler zu. Der überlegt, sagt aber auch nichts. "Febua", zischt es von der Seite. "Genau, Februar", sagt die Lehrerin und spricht dabei die beiden "R" überdeutlich aus.

So geht es weiter. Die Kinder lernen gerade, wie die Monate auf Deutsch heißen. Es sind keine Grundschüler, die in dem Klassenzimmer in der Freiburger Karlschule sitzen, sondern Zehn- bis Zwölfjährige. Lehrerin Silvia Wagner hat eine internationale Vorbereitungsklasse mit Schülern aus mehr als 20 Nationen vor sich, etwa die Hälfte sind Flüchtlingskinder. Kinder aus Osteuropa sitzen neben Schülern aus Eritrea, Südkorea und Pakistan, ein Mädchen trägt Kopftuch. Die Lehrer, die sonst in der Grund- und Werkrealschule unterrichten, vermitteln Deutsch als Zweitsprache. Sie bereiten die Kinder in diesen Klassen darauf vor, nach etwa einem Jahr in Regelklassen zu wechseln. Wie in anderen Klassen im Land hat das neue Schuljahr in der Karlschule im September begonnen. Viel länger wohnen die meisten Schüler noch nicht in Freiburg oder in der Umgebung.

Die Kinder kommen nicht nur aus verschiedenen Nationen, sie sind auch auf einem unterschiedlichen Bildungs- und Wissensstand. "In der Klasse sitzen Kinder von Gastdozenten aus dem Ausland neben denen von Arbeitskräften, die in Deutschland angeworben wurden, und Flüchtlingskindern", sagt Hansjörg Nievergelt. Er leitet die Karlschule, die sich der ausländischen Schüler angenommen hat. Manche Kinder können neben ihrer Muttersprache bereits Englisch. Andere aber sitzen in Freiburg zum ersten Mal überhaupt in einem Klassenzimmer und sind noch nicht "beschult", wie Silvia Wagner es nennt.

"Wir kommen immer mehr weg vom Frontalunterricht und sollen uns als Lehrer möglichst zurücknehmen", erklärt Silvia Wagner den Einsatz des Stoffballs. Das gelte für Vorbereitungsklassen wie für Regelklassen. Gerade für Kinder, die kein Deutsch können, eigne sich diese Unterrichtsform gut. "Die Schüler rufen sich gegenseitig auf. Ich bin als Unterstützung da, ohne die ganze Aufmerksamkeit auf mich zu lenken." Die Schüler nehmen sich wahr, sie gehen auch dann aufeinander ein, wenn sie die Monate aufsagen. Obwohl sie keine gemeinsame Sprache haben, in der sich alle verständigen können.

Trotzdem helfen sie sich gegenseitig, meistens reden sie mit Händen und Füßen: Fragende Blicke und Schulterzucken verstehen alle. Die Kinder sprechen noch nicht miteinander, aber sie erleben sich als eine Gemeinschaft. Eine Schulklasse eben, die sich selbst hilft und fördert. Das ist ein Punkt, auf den die Lehrer besonderen Wert legen, wie Wagner sagt: "Die Schüler, die schon weiter sind, sollen den anderen helfen. Das klappt in dieser Klasse sehr gut."

Vor ein paar Tagen wurde diese junge Klassengemeinschaft vergrößert: Vier neue Schüler aus Syrien sind dazugekommen. Kein Einzelfall an der Karlschule, die das ganze Jahr über neue Schüler aufnimmt. Die Neuen sitzen an einem großen Tisch in der Mitte des Zimmers, die Tische ihrer Klassenkameraden umrahmen sie in einem großen "U". "Die Neuen sitzen immer innen, weil sie die ganze Zeit meine Aufmerksamkeit brauchen. So habe ich sie nahe bei mir", begründet Wagner die Sitzordnung.

Dass diese Klasse anders ist, zeigte sich schon vor dem ersten Schultag. "Manche Kinder hatten keine Stifte, kein Papier dabei, als ihre Eltern sie vorbeigebracht haben", sagt Silvia Wagner. Sie habe darum erst einmal für die nötigsten Schulsachen gesorgt. Nun liegen auf den Tischen Schulhefte, Stifte, Spitzer. Es herrscht eine arbeitsame Atmosphäre. Silvia Wagner hat Blätter ausgeteilt mit Aufgaben für jedes Kind. Alle sind mit Begeisterung dabei. Manche Schüler denken noch angestrengt nach, während andere schon ihre Stifte über das Papier flitzen lassen. "Es ist wichtig, dass sich die Schüler selbst kontrollieren können, weil ich nicht auf alle gleichzeitig eingehen kann", erklärt sie.

Die fortgeschrittenen Schüler sollen unregelmäßige Verben konjugieren. Das klappt bereits nach vier Wochen, weil die Kinder Deutsch als Zweitsprache in Deutschland schnell lernen. Schneller als etwa deutsche Kinder Englisch oder Französisch. So erklärt es Schulleiter Nievergelt: "Die Kinder kommen ohne Deutschkenntnisse zu uns, aber sie merken schnell, dass alles nur über die Sprache funktioniert. Sie sind hochmotiviert, weil sie ihren Lernerfolg sofort anwenden können." In einer Vorbereitungsklasse werden darum keine Vokabeln gepaukt, hier muss keiner auf einen Schüleraustausch warten, um die neue Sprache wirklich zu sprechen. Es genügt schon, das Klassenzimmer zu verlassen. Auch Besuche auf dem Wochenmarkt oder gemeinsames Backen sind Teil des Unterrichts. Weil die Kinder dauernd mit der Sprache konfrontiert sind, fällt ihnen das Lernen leichter.

Das wird wohl auch Aylin und ihren Klassenkameraden aus Syrien so gehen, obwohl sie jetzt noch kein Wort Deutsch sprechen. Deswegen brüten sie über anderen Arbeitsblättern als ihre Mitschüler. Mit alltäglichen Begriffen wie Ball und Lineal geht es los. "Am Anfang ist es besonders wichtig, mit Bildern zu arbeiten. Mit der Sprache würde ich nicht weit kommen", sagt Wagner. Dazu gehört, dass sie deutsche Wörter vorspricht und oft wiederholt.

Auf dem Tisch der neuen Schüler liegen kleine gelbe Pappkärtchen, auf die Wagner Bilder gemalt hat. Auf die Rückseite der Kärtchen hat sie die jeweiligen deutschen Wörter geschrieben. Diese und viele andere Arbeitsmaterialien hat die Klassenlehrerin selbst erstellt. Schon zu Studienzeiten hat sich Silvia Wagner für Ausländerpädagogik interessiert, an der Karlschule leitet sie mittlerweile nur noch Vorbereitungsklassen.

Die zehnjährige Aylin nimmt das Kärtchen mit dem Symbol Ball , schaut es sich an und sucht die gleiche Abbildung auf ihrem Arbeitsblatt. Auf Arabisch sagt sie etwas zu einem ihrer Mitschüler. Das hört der elfjährige Samis*, der seit September in die Klasse geht und schon ganz gut Deutsch spricht. Er blickt von seinem Arbeitsblatt mit den unregelmäßigen Verben auf und spricht kurz auf Arabisch mit Aylin. Silvia Wagner, die sich gerade um eine andere Schülerin kümmert, reagiert sofort. "Sch, Samis, kein Arabisch sprechen, bitte." Nur wenn die Verständigung zwischen Schülern und Lehrerin gar nicht klappt, darf er übersetzen. "Aylin hat gesagt, dass es ein Ball ist", übersetzt Samis. Aber das deutsche Wort kennt Aylin für den Begriff noch nicht. Doch lange kann das nicht mehr dauern, ist Silvia Wagner überzeugt: "Nach sieben Wochen lesen wir Sätze, bald darauf schreiben die Schüler kurze Texte."

Nach durchschnittlich einem Jahr wechseln die Schüler aus der Vorbereitungsklasse in die entsprechende Regelklasse. Ziel ist es, sie möglichst schnell zu integrieren. Deshalb können sie schon vor Ablauf des Schuljahres wechseln, wenn ihre Sprachkenntnisse ausreichen. Das gilt auch fürs Englische: Beherrschen sie das, besuchen sie den Englischunterricht der Regelklasse. Das ist eine weitere Möglichkeit, die Kinder individuell zu fördern. Es erleichtert den späteren Übergang in den Regelunterricht.

"Ich bin für die Grammatik und die Lernmotivation

zuständig."

Lehrerin Silvia Wagner
Die Kinder gehen 25 Stunden pro Woche in die Karlschule und können auch über Mittag bleiben, wenn die Eltern zustimmen. Die Caritas bietet eine Hausaufgabenbetreuung für alle Schüler an. "Die Kinder haben dann bis 17 Uhr mit der deutschen Sprache zu tun. Da wird gespielt, gestritten, gegessen, Quatsch gemacht", erzählt Wagner. Das Angebot werde gut angenommen, sagt Rektor Nievergelt. Die Schüler lernen das Sprechen freilich eher außerhalb des Klassenzimmers. Silvia Wagner erzählt von einem Jungen, der einen schweren Unfall hatte und wochenlang nicht zur Schule gehen konnte. "Nach der Zeit im Krankenhaus kam er wieder und konnte plötzlich lesen", so Wagner. "Ich bin für die Grammatik und die Lernmotivation zuständig."

Es sei für sie eine besondere Herausforderung, Schüler in Vorbereitungsklassen zu unterrichten. Sie gehe mit ihnen auch anders um als etwa mit Hauptschülern: "Ich bin ihre erste Lehrerin in dem fremden Land. An das erste Jahr werden sie sich lange erinnern, deswegen ist der Umgang sehr herzlich." Das schließt Ermahnungen im Unterricht nicht aus, aber große Unterbrechungen gibt es nicht. Die Stimmung ist harmonisch. "Die Kinder wissen, dass sie alle in einer ähnlichen Situation sind. Dadurch ist das Konfliktpotenzial gering", sagt Silvia Wagner. Problematisch werde es allerdings, wenn Schüler verhaltensauffällig seien: "Wir wissen meistens nicht, was dahintersteckt. Auch unsere Streitschlichter können wegen der Sprachbarriere nicht helfen." Wenn das Problem schnell geklärt werden muss, bitten die Lehrer Schüler aus anderen Klassen um Hilfe, die in der jeweiligen Sprache zu Hause sind. Das passiere aber nur in Ausnahmefällen. In der jetzigen Stunde muss Silvia Wagner nur ab und Schüler unterbrechen, die mit ihrem Nachbarn reden.

Nach und nach füllen sich die Arbeitsblätter. Als die meisten Schüler fertig sind, holt die Lehrerin ein kleines Xylophon aus einem Schrank. Sie spielt eine kurze Melodie. Alle Augen blicken zur Tafel. "Wenn ich rufen würde, dass sie nach vorne schauen sollen, würden sie das wahrscheinlich gar nicht hören, weil sie so konzentriert sind", sagt Silvia Wagner. Sie schreibt die Hausaufgaben an die Tafel und teilt neue Arbeitsblätter aus.

Die Doppelstunde ist vorbei, es klingelt zur Pause. Die Schüler stehen auf, ziehen ihre Jacken an und verlassen das Klassenzimmer. Einer aber bleibt sitzen, vollkommen vertieft in die Hausaufgaben.

* Die Namen der Kinder sind der Redaktion bekannt.

Die Situation in Baden-Württemberg

Die Landesregierung will den Schulunterricht für Flüchtlinge ausbauen. Im Nachtragshaushalt sind 600 neue Lehrerstellen für den Unterricht geplant, wie das Kultusministerium jüngst mitteilte. Drei Millionen Euro sollen in die vorschulische Sprachförderung fließen. Die Zuschüsse an Privatschulen sollen deutlich angehoben und die Leitungen kleiner Schulen entlastet werden. Bereits zu Beginn des Schuljahres seien 562 zusätzliche Lehrerstellen für den Flüchtlingsunterricht bereitgestellt worden. Laut der aktuellen Prognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge werden 2015 unter den Flüchtlingen, die in den Südwesten kommen, etwa 33 000 Kinder und Jugendliche sein.

Ressort: Südwest

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