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Gesundheitsversorgung

Kinder- und Jugendpsychiatrien im Land sind am Anschlag

  • Felix Lieschke

  • Di, 14. März 2017, 12:13 Uhr
    Südwest

Immer mehr Kinder und Jugendliche sind psychisch krank. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind immer voller. Die gestiegenen Flüchtlingszahlen verstärken das Problem.

Ein junges Mädchen hält sich  die Hände vor das Gesicht.  (Symbolbild)  | Foto: Nicolas Armer
Ein junges Mädchen hält sich die Hände vor das Gesicht. (Symbolbild) Foto: Nicolas Armer
Immer mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen. Diese Diagnose betrifft zunehmend auch Kinder und Jugendliche. Mit dem Zuzug jugendlicher Flüchtlinge hat sich die Situation für Kinder- und Jugendpsychiatrien in der Region noch einmal verschärft – die steigende Zahl der Notaufnahmen treibt die Kliniken an die Grenze der Belastbarkeit.

Psychische Erkrankungen sind keine Seltenheit mehr unter jungen Erwachsenen. Druck in der Schule, Mobbing durch Klassenkameraden oder – unter anderem – utopische Schönheitsideale führen immer häufiger zu Verhaltensauffälligkeiten und damit zur Behandlung in einer der Kinder- und Jugendpsychiatrien. Doch in denen fehlt häufig der Platz, um solche Fälle schnell behandeln zu können. Zumal aktuelle Zahlen des Statistischen Landesamtes in Baden-Württemberg zeigen, dass der Bedarf deutlich wächst. Wurden im Jahr 2000 noch insgesamt 3.163 Jungen und Mädchen zwischen fünf und 15 Jahren mit psychischen und Verhaltensstörungen diagnostiziert, waren es 15 Jahre später schon 4.501.

Es hat sich viel getan, aber auch der Bedarf hat sich geändert

Eine Ende 2012 vom Sozialministerium in Auftrag gegebene Studie stellte fest, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrien im Land im bundesweiten Vergleich schlecht abschneiden. Unterteilt werden die Angebote der Kliniken in Betten und Plätze. Betten sind die Zahl der vollstationären, Plätze die der teilstationären Kapazitäten. Bei der Zahl der Plätze und Betten pro 100.000 Einwohner lag Baden-Württemberg auf einem der hinteren Plätze – damals waren es 14 Plätze und 33 Betten. Weniger Plätze hatte nur noch Niedersachsen. Spitzenreiter war Mecklenburg-Vorpommern mit 75 Betten und 72 Plätzen pro 100.000 Einwohner. "Daran hat sich bis heute auch nicht viel geändert", sagt Renate Schepker von der Kinder- und Jugendpsychiatrie Weissenau bei Ravensburg. Sie ist Chefärztin der dortigen Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Leitende Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie.

"Das meiste in der Evaluation vorgeschlagene wurde umgesetzt", sagt sie, "aber wir haben eine landesweite Zunahme an Notaufnahmen im Kinder- und Jugendbereich. Das hat sich in den vergangenen Jahren noch verstärkt durch die Zuwanderung begleiteter und unbegleiteter Flüchtlinge." Außerdem habe die Akzeptanz psychischer Erkrankungen zugenommen: Arzte diagnostizieren heute schneller und besser, Sozialpädagogen erkennen früher, dass ein Kind verhaltensauffällig ist – daraus ergibt sich ein erhöhter Behandlungsbedarf.

Wartezeit für einen Behandlungsplatz beträgt meist mehrere Monate

Christian Fleischhaker, Leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) in Freiburg, bestätigt die Platzprobleme: "Selbst wenn ein Facharzt einen Jugendlichen in die Klinik einweist, können wir ihn selten aufnehmen." Vor zehn Jahren habe die Zahl der Notaufnahmen noch bei rund 30 Prozent der Patienten gelegen, heute liege sie bei etwa 80 Prozent. Platz für reguläre Patienten bleibt kaum noch: Die Wartezeit für einen Behandlungsplatz in der KJP liegt mittlerweile bei mehreren Monaten. Auch Fleischhaker hat an der Evaluation für das Sozialministerium mitgewirkt – schaut man auf die Zahlen, hat Freiburg von den Verbesserungsvorschlägen profitiert.

In der Evaluation ausgewiesen wurden 2013 insgesamt 28 Betten und acht Plätze. Die Zahl der Betten stagniert zwar, doch fünf Plätze sind dazugekommen. "Faktisch haben wir diese Plätze aber vorher schon gehabt", erklärt Fleischhaker. In der Folge entlasten viele niedergelassene Kinder- und Jugendtherapeuten die Klinik. Der Vorteil an Freiburg: "Die ambulante Versorgung ist wirklich gut."

Nach dem aktuellen Bedarfsplan der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg sind Freiburg und die benachbarten Landkreisen stark überversorgt. Damit nimmt die Stadt in Baden-Württemberg sogar eine Sonderstellung ein: Freiburg hat mehr als doppelt so viele ambulante Kinder- und Jugendpsychiater als laut Bedarfsplan notwendig. Zum Vergleich: Stuttgart hat halb so viele Therapeuten wie nötig. Schlusslichter sind Pforzheim, der Enzkreis, Freudenstadt und Calw, wo lediglich ein Drittel der benötigten Stellen für Kinder- und Jugendpsychiater besetzt ist.

Das Sozialministerium will das Angebot ausbauen

Trotzdem hat sich seit 2014 einiges verändert in Baden-Württemberg. Insgesamt verfügt das Land in den 21 Standorten zur stationären Aufnahme über 617 Betten, das ist eine Steigerung um zehn Betten. 621 sollen es laut Plan noch werden. Teilstationäre Plätze an 27 Standorten gibt es aktuell 338, diese Zahl soll auf 370 steigen – 85 mehr als noch 2014. Das Sozialministerium setzt darauf, das Angebot auszubauen. "Insbesondere Tageskliniken sind gerade in der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung sehr wichtig. Sie ermöglichen es den Kindern und Jugendlichen, im familiären und schulischen Umfeld zu verbleiben", heißt es dort auf Anfrage der BZ.

In Freiburg geht der Kampf um einen Platz in der Klinik dennoch weiter. "Wir sind ständig dabei, die gesündesten Patienten nach Hause zu schicken, um noch kränkere aufnehmen zu können", sagt Fleischhaker.

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Ressort: Südwest

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 14. März 2017: PDF-Version herunterladen

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