Schule
Probleme mit Inklusion: Zu oft alleingelassene Lehrer
Kinder mit Behinderung können die Regelschule besuchen – dieser Rechtsanspruch gilt in Baden-Württemberg seit 2015 / Probleme mit der Inklusion sind groß.
Sie berichtet über ein Buch, das sie gelesen hat und in dem es um eine Hexe geht und um Fußballmannschaften. Was sie zu sagen hat, ist klar gegliedert. Zu jedem Punkt hat sie einen Satz in ihr Heft geschrieben, den sie jetzt vorliest. "Du hast uns nicht angeschaut", wird hinterher Jonas sagen, einer der größeren Jungs. In der Tat war Susi schwer auf ihr Heft konzentriert. Aber hinterher erfährt sie doch Beifall. Thomas, der zum Ende des Schuljahrs auf eine weiterführende Schule wechselt, sagt: "Du hast das gut gemacht, das hat mir gefallen."
Dabei könnte er vermutlich das alles viel besser. Denn er ist nicht nur älter, sondern er hat auch nicht mit einer Behinderung zu kämpfen. Aber er vermag anzuerkennen, dass Susi diese Buchvorstellung gelungen ist. Sie hat sich dafür sicher anstrengen müssen wegen ihrer Schwierigkeit mit dem Lernen. Doch mit der können alle anderen in der Klasse ebenso umgehen wie damit, dass Antonia während Susis kurzem Vortrag in sich zusammengesunken ist, dass Max ein bisschen rumalbert, weil er sich nicht mehr konzentrieren kann.
In Judith Ulrichs Klasse an der Hermann-Brommer-Schule in Merdingen sind fünf der 20 Kinder Sonderschüler, wie man früher gesagt hat. Doch seit der Rechtsanspruch auf Inklusion 2015 ins Schulgesetz aufgenommen wurde, gibt es keine Sonderschulen mehr, sondern nur noch Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ), und eine wachsende Zahl von Kindern mit Behinderung besucht seither die sogenannte Regelschule. Dass sie an der Merdinger Grundschule nicht sehr auffallen, hat mit deren Konzept zu tun: In ihren vier Klassen sind alle vier Jahrgangsstufen vertreten, alle werden gemeinsam unterrichtet. Zehn- oder gar Elfjährige sitzen neben Fünf- und Sechsjährigen. Dieses Schulmodell besteht seit zwei Jahren, es kam auf Wunsch der Eltern zustande, wie Schulleiterin Alexandra Mangold berichtet.
Die Klassen tragen darum keine Nummern, sondern Namen – "Löwen" heißt Susis Klasse, "Pinguine" die nebenan. "Die Kinder wüssten meist gar nicht, wer in welcher Klassenstufe ist", meint Lehrerin Judith Ulrich. Oder sie wissen es schon, aber es spielt im Alltag keine große Rolle. Denn der Unterricht ist je nach Leistungsstand eines Kindes individualisiert oder läuft in kleinen Lerngruppen ab. Deshalb darf Klara, die eigentlich zur zweiten Klassenstufe gehört, sich schon mal an einer Personenbeschreibung versuchen, an der die Viertklässler gerade intensiv arbeiten – wenn sie zuvor ihr eigenes Lernprogramm absolviert hat.
In solchen Unterrichtsphasen versteht sich Judith Ulrich als Lernbegleiterin, ebenso ihre Kollegin Bettina Kluger, Sonderpädagogin an der Albert-Schule in Ihringen. Kluger kann freilich als abgeordnete Lehrerin nur stundenweise den Unterricht mitgestalten – den Lernstoff für die Inklusionskinder bereitet sie aber insgesamt vor auch für die Zeit, wenn sie nicht in der Klasse ist.
Wie Alexandra Mangold berichtet, stehen der Hermann-Brommer-Schule bei zwölf Kindern mit sonderpädagogischem Bedarf in drei Klassen nur 21 Sonderpädagogenstunden zu. Die übrige Zeit ist Inklusion allein den Grundschullehrerinnen aufgetragen. Und die kann schon mal schwierig werden, gerade wenn es sich Kinder mit sozial-emotionalen Störungen handelt: Die verlangen mitunter die ganze Konzentration der Lehrkraft, während die übrige Klasse in solchen Momenten auf sich gestellt ist. Nachvollziehbar also, wenn Judith Ulrich sagt: "Das Ideal wäre, wenn wir ständig als Lehrertandem in der Klasse wären."
Überforderung: Das Wort ist immer wieder zu hören, wenn Lehrkräfte sich über Inklusion unterhalten. Und diese Überforderung hat damit zu tun, dass eben die Kompetenz der Sonderpädagoginnen und -pädagogen nicht die ganze Unterrichtszeit über zur Verfügung steht. "Ich brauche mehr sonderpädagogisches Fachwissen", sagte Stefan Lotze, Schulleiter der Hansjakobschule in Titisee-Neustadt in einer Tagung des Kultusministeriums zur Inklusion, "denn ich stoße im Unterrichtsalltag an meine Grenzen." Doch dagegen stehen die Regeln für die Zuteilung von Sonderpädagogen, die abhängig ist von der Zahl der Inklusionskinder und der Schwere ihrer Behinderung.
All das macht vielfach Verdruss, der sich in der Stuttgarter Tagung gelegentlich heftig äußerte. Unerlässlich seien mehr Stellen für Sonderpädagogen, schimpfte Michael Hirn von der Bildungsgewerkschaft GEW: "Die Akzeptanz der Inklusion geht zurück unter den Lehrkräften, weil die Aufgabe nicht zu schaffen ist." Wenn es so weitergehe wie jetzt, "dann fährt die Inklusion in den kommenden fünf Jahren gegen die Wand".
Starke Worte. Zu starke, meint Susanne Eisenmann, die Kultusministerin. In der Tagung wollte sie erfahren, wo das Land nach anderthalb Jahren schulische Inklusion steht. "Wir sind insgesamt auf einem guten Weg", sagt sie hinterher, sieht aber Verbesserungsbedarf. Der Mangel an Lehrkräften ist ihr selbstverständlich bekannt. In den vergangenen zwei Jahren sind jeweils 200 Stellen für Sonderpädagogen dazugekommen. Doch um sie alle zu besetzen, fehlen die Menschen: Die Pädagogischen Hochschulen kommen mit ihrer Ausbildung nicht nach, zumal bis vor kurzem für Sonderpädagogik ein Numerus Clausus mit der Zulassungsnote 1,0 galt. Und es ist nicht nur das Land Baden-Württemberg, dem Sonderpädagogen fehlen – mehr noch gilt das für Nordrhein-Westfalen oder Berlin, wo nach Überzeugung mancher Beobachter Inklusion schon jetzt gescheitert ist.
Dabei haben in Baden-Württemberg beileibe nicht alle Eltern das Recht auf Inklusion in Anspruch genommen: Die überwiegende Mehrheit sieht ihr Kinder in einem SBBZ und dessen geballter sonderpädagogischer Kompetenz am besten aufgehoben. Nur 25 Prozent der Eltern, deren Kind ein besonderes Bildungsangebot braucht, haben sich für den inklusiven Unterricht entschieden. Das sind rund 6500 Kinder, die nun eine Regelschule besuchen. In der Hauptsache sind das – neben der Gemeinschaftsschule, zu deren Programm immer schon Inklusion gehört – Grund-, Haupt- und Werkrealschulen. Realschulen und Gymnasien versuchen sich um diese Aufgabe noch weitgehend herumzudrücken – was ihr missfalle, wie Eisenmann unumwunden sagt: "Inklusion ist Aufgabe aller Schularten."
Der Kultusministerin hat die Tagung auch verdeutlicht, dass es nicht der richtige Weg sein kann, Inklusionskinder einzeln an Regelschulen unterzubringen. Sie plädiert – wie viele Lehrkräfte während der Tagung – für Gruppenlösungen: Wenn sechs Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf in einer Klasse zusammengefasst seien, dann könnten annähernd ständig zwei Lehrkräfte – Regelschullehrerin und Sonderpädagogin wie in Merdingen – im Klassenzimmer sein. Andernfalls besteht die Gefahr, dass ein Kind mit Lernschwierigkeiten zeitweilig so nebenher mitläuft im Regelschulbetrieb; oder dass ein Kind mit Verhaltensstörungen den gesamten Unterricht aufmischt. Auf der anderen Seite finde der Unterricht für Inklusionskinder, wenn sie dem Regelschulstoff nicht folgen können, mangels anderem Raumangebot draußen auf dem Flur statt. Kurzum: Pädagogen können viele Geschichten aus der Inklusionsrealität in den Schulen erzählen.
Als ein Gegenentwurf gilt die Adolf-Reichwein-Schule in Freiburg: Hier sind Grundschule und Förderschule auf Betreiben der Stadt 2009 zusammengelegt worden. Wie Anna Link und Sven Hertel berichten, beide Lehrkräfte an dieser Schule in einem sozialen Brennpunkt, hat sich die Integration beider Schularten bewährt. Sie ermöglicht, dass sie beide gemeinsam den Unterricht gestalten können, dass sie für alle Kinder Ansprechpartner sind, dass Sonder- und Regelpädagogik Hand in Hand gehen.
Von solchen Zuständen können andere Lehrkräfte oft nur träumen. In vielen Schulen wird Inklusion offenbar auf die leichte Schulter genommen. Doch Schulleiter Lotze betont aufgrund seiner eigenen Erfahrungen: "Inklusion ist eine Herausforderung an das gesamte Schulleben", es setze völlig neue Themen für die Schule. Deshalb seien die Schulleitung und deren Haltung "die entscheidende Größe für das Gelingen der Inklusion".
Das beginne schon, sagt Annette Eckstein von der Eichendorffschule in Lörrach, mit dem ersten Elternabend, wenn das erste Inklusionskind in der Klasse angekommen ist: Es brauche viel Überzeugungsarbeit, um den Eltern die Furcht zu nehmen, nun werde ihr Kind wegen des behinderten Mitschülers vernachlässigt. Dagegen sähen sie kaum die Chance auf soziales Lernen, die darin stecke – und die nach Erfahrungen der Merdinger Schulleiterin Mangold in der Unterrichtspraxis durch gegenseitiges Helfen und Verständnis auch in der Praxis eingelöst werde.
Aber nur zu häufig werden Lehrkräfte alleingelassen mit dieser Aufgabe. In ihrer Schulkonferenz, so berichtet eine Freiburger Grundschullehrerin, sei Inklusion nie ein Thema. Sie sei viel zu oft mit den Inklusionskindern in der Klasse allein, sei auf diese Aufgabe auch nicht besonders vorbereitet worden. Die Schulleitung interessiere sich nicht für ihre Probleme. Deshalb sei sie froh, dass sie sich wenigstens mit der ihr zugeteilten Sonderpädagogin bestens verstehe. Solches Durchwursteln ist nicht im Sinne der Kultusministerin: Sie sieht Schulleitungen in der Pflicht, weil Inklusion Querschnittsaufgabe sei; sie setzt auf Fortbildung der Lehrkräfte, auf Schulentwicklung.
Aber auch die SBBZ sind gefordert, um die Kooperation mit der Regelschule zu verbessern. Am Bestand der sonderpädagogischen Einrichtungen will dagegen niemand rühren – zumal die meisten Lehrerinnen und Lehrer überzeugt sind, dass Inklusion keineswegs allen Kindern mit Behinderungen wirkliche Vorteile bringt. In den SBBZ kümmern sich nicht nur speziell ausgebildete Fachkräfte um die Schüler, es gibt Räume für Ruhepausen, Physiotherapie, zum Austoben, wie sie kaum eine Regelschule bieten kann, und eine moderne technische Ausstattung etwa für Kinder, die schlecht sehen oder hören.
All das müssten Regelschulen indes erst nachrüsten – womöglich oft nur für einen einzigen Schüler. Gegen diesen finanziellen Aufwand sperren sich manche Gemeinden. Viele Schulgebäude sind nicht barrierefrei, es fehlen Rampen und Aufzüge. Dabei haben viele körperlich behinderte Kinder kein Problem mit Regelunterricht, anders als solche mit Verhaltensstörungen oder geistiger Behinderung.
In Merdingen will die Gemeinde demnächst vorsorglich einen Aufzug in ihre Schule einbauen. Die Kinder, die derzeit dort an der Inklusion teilnehmen, brauchen ihn nicht – ihre Probleme liegen in der Sprache, im Lernen, im sozialen Verhalten – eine Mischung, die sich auch aus der Kooperation mit der darauf spezialisierten Ihringer Albert-Schule ergibt.
Schulleiterin Alexandra Mangold legt großen Wert auf die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern: "Wir suchen gemeinsam die beste Lösung fürs Kind." Dazu gehört für sie, "jedes Kind an seine Leistungsgrenze zu führen" – und zwar ganz individuell. Vermutlich deshalb stößt in der Klasse nicht auf Widerspruch, was Susi auf die Frage, was ihr an dem von ihr vorgestellten Buch nicht gefallen habe, antwortet: "Der Wettbewerb unter den Fußballteams". Wettbewerb, im Sport wohl unentbehrlich, hat in einer solchen Inklusionsklasse offenbar kein Gewicht.
* Die Namen aller Kinder sind geändert.
Was ist Inklusion?
In jeder Schulklasse gibt es Kinder, die rasch lernen und gute Noten schreiben. Und dann gibt es andere, die sind langsamer und haben meist nicht so gute Noten. Dennoch gehören alle zu dieser Klasse.
Sie schließt Schlaue und weniger Schlaue ein, und sie kommen alle miteinander und dem Unterricht zu Recht. Manche Kinder aber brauchen Hilfen, wenn sie lernen sollen: Sie sehen oder hören nicht gut, sie können nicht laufen, sie haben Probleme, sich zu konzentrieren oder zu sprechen.Diese gingen bisher auf besondere Schulen, Sonderschulen genannt. Doch das hat sich jetzt geändert: Nun können sie auch die Schulen besuchen, in denen die Schlauen und nicht so Schlauen sind. Sie werden damit in deren Klassengemeinschaft eingeschlossen – das nennt man Inklusion. Dennoch sollen auch dort die Kinder, die Hilfe beim Lernen oder gar zum Leben brauchen, diese Hilfe weiter erhalten.