Ostwestfalen
Wie das kleine Dorf Etteln digitaler wurde als Hongkong
Smarter als so manche Großstadt: Ein kleines Dorf in Ostwestfalen setzt Maßstäbe für digitale Dörfer. Was Deutschland von dem Ort und seinen Einwohnern lernen kann, zeigt ein Ortsbesuch.
Florentine Dame & dpa
Mo, 16. Jun 2025, 11:06 Uhr
Panorama
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Auf den ersten Blick ist es ein Dorf wie viele andere: Es gibt eine Dorfkirche, einen Schützenverein, gelegentlich rollen Traktoren über die ruhigen Straßen.
Doch das 1.750-Seelen-Örtchen Etteln, Teil der Gemeinde Borchen in Ostwestfalen, ist Spitzenreiter in Sachen Digitalisierung: Seit vergangenem Jahr nennt es sich stolz "Digitalstes Dorf Deutschlands". Im Herbst wurde das Dorf von der internationalen Berufsorganisation für technische Ingenieure "IEEE" mit dem ersten Platz des Smart City Awards geehrt - vor der Megacity Hongkong auf Platz zwei.
Wieso genau und was Kommunen sich hier abschauen könnten, erfahren Interessierte beim Dorfrundgang mit dem Ortsvorsteher Ulrich Ahle.
Hinter jeder Ecke ein neues Digitalprojekt
Die Tour beginnt bei einer der drei digitalen Leinwände mit Touchscreen im Dorf. Dort können sich auch Menschen ohne eigenes Smartphone durch allerlei Wissenswertes zu ihrer Heimat klicken. Daneben: Die digitale Mitfahrbank - per Knopfdruck erfahren die rund 500 aktiven Nutzer der Dorf-App, einer Social-Media-Plattform für die Anwohner, dass dort jemand sitzt, der gerne in den Nachbarort mitgenommen werden möchte.
Er oder sie könnte stattdessen auch in das online buchbare kostenlose E-Dorfauto steigen, das der Bürgerverein "Etteln aktiv" betreut. Auf wenigen Dorf-Quadratmetern zeigt sich schon: Etteln ist auf dem Weg zum digitalen Musterdorf anderen meilenweit voraus. Die intelligente Weihnachtsbeleuchtung und der smarte Altkleidercontainer sind da eher schon Nebensache.
Und Ulrich Ahle, seit zehn Jahren Ortsvorsteher in seinem Heimatdorf, vermittelt seinen Besuchern den Eindruck, als sei das ein Kinderspiel gewesen: "Wir brauchen nichts neu erfinden. Wir müssen nur gucken, was die anderen erfolgreich gemacht haben und es für uns adaptieren", sagt der 62-Jährige, der als Führungskraft in der IT-Branche auch berufliche Expertise einbringen konnte.
Großer Ehrenamts-Spirit trägt Digitalisierung
Ohne eine aktive Dorfgemeinschaft sei es nicht gegangen. Er deutet wieder auf die große digitale Stele vor dem Bürgerhaus: "Das Fundament haben die Schützen gegossen, die Kabel hat der Kirchenverein verlegt und Etteln-aktiv hat die Installation gemacht", schildert er exemplarisch.
Die angereisten Verwaltungsleute sind sichtlich beeindruckt. "Der Drive dieser Menschen hier, der ist wirklich ein Vorbild", sagt der designierte Bürgermeister des nordhessischen Städtchens Wanfried, Thilo Vogt. Er hofft, in Etteln Inspiration für seine eigene Amtszeit zu finden.
Nachfragen, die die Bedenken in den Verwaltungen und Dorfgemeinschaften spiegeln, begegnet Ahle mit einem Lächeln: Vandalismus? "Bei uns noch nie vorgekommen"; wie umgehen mit Skepsis in der Bevölkerung? "Wir nehmen den Menschen ja nichts weg. Unsere digitalen Angebote sind Ergänzungen zum analogen Gemeindeleben, kein Ersatz". Zentral bei jedem neuen Projekt sei, dass es das Leben vor Ort besser machen müsse.
Als Etteln 2018 seine umfassende Digitalstrategie formulierte, war das eine Reaktion auf typische Nöte des ländlichen Raums: Der Ortsteil galt als angestaubt, der Grundschule drohte die Schließung. "Irgendwo hinterm Mond, zu weit weg von Paderborn. Da will ich nicht hin", habe er von vielen Familien auf der Suche nach einem Baugrundstück im Grünen gehört, erinnert sich Ahle. Heute kann er die Nachfrage nach Baugrund nicht mehr decken.
Von Insellösungen zum digitalen Zwilling
Um Lücken im Glasfasernetz zu schließen, krempelten die Bürger im Corona-Jahr 2020 selbst die Ärmel hoch: 65 Helfer verlegten mit ihren Traktoren und Schaufeln 30 Kilometer Glasfaserkabel. Nach 3.500 Arbeitsstunden hatte das Dorf Hochleistungsnetz bis zur letzten Milchkanne. Seither folgt ein Pilotprojekt auf das nächste, 1,5 Millionen Fördergelder flossen dafür nach Etteln.
Größter Meilenstein war die Einführung eines digitalen Zwillings: Darunter versteht man eine virtuelle Kopie des Dorfes. Gespeist mit Drohnenfotos und Echtzeitdaten lassen sich mit diesem Abbild etwa Bauplanungen visualisieren oder Hochwasserszenarien simulieren.

Zahlreiche Sensoren messen zum Beispiel Bodenfeuchte und Niederschlagsmenge, zählen Fahrradfahrer auf dem Radweg. Ziel sei es zudem, digitale Insellösungen auf einer gemeinsamen Datenplattform zusammenzuführen, erklärt Christine Wegner, als Projektleiterin bei der Gemeinde Borchen für den digitalen Zwilling zuständig. Wie groß muss das Abwasserrohr bemessen sein? Liegt ein Baugrundstück im Hochwassergebiet? "Manche Anwendungsfälle sieht man erst, wenn man Daten zusammenführt", erklärt sie.
Auch beim Umstieg auf erneuerbare Energien ist Etteln weit vorn: Es gibt in der Region besonders viele Windräder, jedes dritte Dach hat eine Solaranlage. Der Ort produziere damit das 34-fache des eigenen Verbrauchs - und kann seine Digitalprojekte damit aus grünem Strom speisen. Im Ort gibt es einen innovativen digitalen Batteriespeicher. Die Ettelner Datenplattform liegt auf einem Server im Nachbarort: Das Rechenzentrum ist direkt in einem Windrad untergebracht.
Experte: Entwicklung droht, ins Stocken zu geraten
Ein Blick auf Daten der EU-Kommission zeigt, dass Deutschland vor allem bei der Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen deutlichen Nachholbedarf im Vergleich etwa zu vielen baltischen oder skandinavischen Staaten hat. "Wir sind in der Entwicklung einfach zehn Jahre zurück", sagt Ulrich Ahle.
Doch es tut sich was, beobachten Experten, auch auf dem Land. "Wir sind auf einem guten Weg", zeigt sich Steffen Hess optimistisch. Er leitet beim Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering (IESE) in Kaiserslautern den Forschungsbereich zu digitalen Innovationen und Smart Cities und hat mehrere Projekte zur Digitalisierung auf dem Land betreut.

Inzwischen hätten sich viele Kommunen mit Hilfe von Fördergeldern eine gute digitale Infrastruktur aufgebaut. "Durch Krisen, etwa durch Corona, haben viele gesehen, wie stark der Hebel von Digitalisierung sein kann. Wir konnten auch auf dem Land einen Kulturwandel erleben", sagt er. Gleichzeitig gebe es weiterhin ein Gefälle zwischen Orten, die Digitalisierung als Standortfaktor erkannt hätten und solchen, in denen kaum etwas passiere. "Vielerorts müssen Gemeinden weiterhin mit sehr kleinen Budgets zurechtkommen", sagt Hess.
Digitale Dienstleistungen so selbstverständlich wie die Müllabfuhr?
Aktuell beobachte er, dass die begonnene Entwicklung ins Stocken zu geraten drohe, weil politisch andere Themen Priorität hätten. "Wir dürfen jetzt nicht an Tempo verlieren, sondern müssen im Gegenteil verstehen, dass Digitalisierung ländlicher Räume zentraler Teil von Staatsmodernisierung ist". Damit sie in der Fläche gelinge, müsse sie als verpflichtender Teil der Daseinsvorsorge gesehen werden. Digitale Kommunikationskanäle für die Bevölkerung, eine Datenplattform für die Verwaltung und ein digitaler Zwilling wären dann irgendwann so selbstverständlich wie die Müllabfuhr, so sein Wunsch.
In Etteln ist die Transformation längst zum Selbstläufer geworden: Die große Aufmerksamkeit habe dazu geführt, das Anbieter digitaler Konzepte von selbst anböten, vor Ort ein Pilotprojekt zu installieren, berichtet Ahle. Im Herbst läuft das Förderprojekt des digitalen Zwillings aus. Man mache aber weiter: "Alle Projekte sind so aufgelegt, dass sie sich notfalls auch ehrenamtlich weiterführen lassen", sagt Ahle. Man sei aber auch in Gesprächen mit Sponsoren.
Was kann Deutschland von Etteln lernen, Herr Ahle?
Auf dem Weg zum digitalen Musterdorf sei es gelungen, die große Bereitschaft zu ehrenamtlicher Leistung aus der analogen Welt in die digitale Welt zu überführen, begründet der Ortsvorsteher den Erfolg. Außerdem habe es geholfen, dass in der Region traditionell viele Computer-Unternehmen beheimatet sind. Es gibt damit viele digitalaffine Ettelner.
Fehlende IT-Kompetenz, so weiß auch Ahle, sei eines der größten Probleme in den Verwaltungen: Notorisch unterfinanzierte Kommunen können keine hochbezahlten IT-Experten einstellen. Er ist sicher, dass stärkere Rahmenvorgaben für einheitliche Lösungen auch anderen Gemeinden die Transformation erleichtern könnten. Und es brauche Geld: "Nicht nur für den Glasfaserausbau, sondern auch für die digitalen Anwendungen. Wenn sie eine Hochgeschwindigkeitsstrecke bauen und dann fährt da eine Dampflok, kommen sie auch nicht schneller von A nach B."
