Eine Familiengeschichte im Nigeria der 1960er-Jahre
Im Literaturcafé wird bei der Lesung von Chris O’Reilly über ein Buch von Chimamanda Ngozi Adichie diskutiert. Deren Roman "Die Hälfte der Sonne" verbindet Geschichte und persönliche Schicksale.
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
Der Dorfjunge Ugwu kommt als Hausdiener zu Odenigbo und Olanna, einem linksintellektuellen Professor und seiner aus einer reichen, korrupten Familie stammenden Lebensgefährtin, die versucht, ihren eigenen Weg zu gehen. Bei ihnen lernt er lesen und schreiben. Der englische Schriftsteller Richard, fasziniert von der alten Igbo-Kunst, verliebt sich in Olannas Zwillingsschwester Kainene, die nach wie vor die Position von Macht und Korruption vertritt. Eine Familiengeschichte also, deren Mitglieder Zeugen der Unabhängigkeit und des Untergangs Biafras werden, wo die meistern Igbo leben. Aufstieg und Untergang, wie die Hälfte der Sonne, die auf der Flagge Biafras abgebildet war und zu dem Titel des Romans führte.
O’Reilly versuchte, die verschiedenen Lebenswelten anzudeuten, die die Autorin in ihrem Buch miteinander verwebt, um die Vielfalt der Perspektiven zu verdeutlichen. Adichie gibt in ihrem Roman einen Einblick in eine heute fast vergessene afrikanische Mittelschicht, aber auch in archaische Dorfstrukturen oder die korrupte Klasse der Reichen, vor allem aber zeigt sie auf, was der zerstörerische Alltag des Krieges aus den Menschen macht.
In einer ersten Leseprobe machte O’Reilly anhand von zwei Amerikanern, die ein Flüchtlingscamp besuchen, die Vorurteile der ehemaligen Kolonialisten deutlich, die weder eine Ahnung von der Situation der Menschen haben noch Interesse für ihr Schicksal. Die Autorin zeige aber auch, so O’Reilly weiter, die Fehlbarkeit der Charaktere, die aufgrund der Umstände gerade im Moment ihres Triumphes versagen, sich zu Handlungen hinreißen lassen, die sie zutiefst bereuen.
Mit einer zweiten Leseprobe eines weiteren Besuchs in einer Flüchtlingsanlage durch zwei Frauen illustrierte O’Reilly anhand der Beschreibung der Agonie, der abgemagerten, ausgehungerten Insassen, wie in Adichies Buch die Unschuldigen, die Machtlosen zu Zeugen des Leides werden, fast wie der Chor in der antiken Tragödie. Aber es gebe bei aller Trostlosigkeit und der misstrauischen Stimmung am Ende des Krieges in Adichies Roman auch Hoffnung, meinte O’Reilly. Ugwu wächst an seinen Erfahrungen durch seine Buchfragmente, die er als seinen persönlichen Weg zur Rettung auf Papierfetzen, auf Rändern von Zeitungen, niederschreibt. Mit ihm identifiziere sich die Autorin am ehesten.
In einer Diskussion wurde nochmals die Vielfalt und Zerrissenheit eines Landes deutlich, indem sich die Kolonialisten nicht um ethnische Grenzen gekümmert haben, sondern unter dem Namen Nigeria ganz unterschiedliche Völkergruppen zusammenwarfen und so für das Gefühl von Benachteiligung sorgten, das zu Unruhen führte, diese wiederum zu Massakern und schließlich zu einem blutigen Krieg, der das nur drei Jahre existierende unabhängige Biafra wieder auslöschte.
Einerseits mache der Roman die tief verwurzelten Unterschiede der Kulturen Afrikas zu denen der Kolonialisten, aber auch zu unseren, deutlich, meinten einige Zuhörer. Andererseits zeugten Phänomene wie Gruppenzwang und Verlust der Individualität im Krieg sowie das Elend der Unschuldigen von ganz allgemeinen menschlichen Erfahrungen, und insofern gehe die Thematik dieses Romans uns alle an.
