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"Hässliche Männchen mit Presslufthammer"

  • Fr, 27. April 2018
    Schülertexte

     

ZISCHUP-INTERVIEW mit einer jungen Frau, die schon seit ihrer Kindheit unter heftiger Migräne leidet und diese bis heute nicht losgeworden ist.

Autsch – wer Migräne hat, muss sich vor lauter Schmerzen verkriechen. Foto: andriano_cz (stock.adobe.com)
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Migräne ist eine Krankheit, die sich durch heftigste Kopfschmerzen auszeichnet. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Immer mehr Kinder und Jugendliche sind betroffen. Jedes zehnte Kind leidet heutzutage unter Migräne. Gerade für Jüngere ist es sehr schwer, mit der Krankheit umzugehen. Nicht immer hat die Umwelt dafür Verständnis. Die heute 20-jährige Alicia* verbrachte ihre Kindheit und Jugend mit Migräne. Laetitia Piotrowski, Schülerin der SG8b der Gewerblichen und Hauswirtschaftlichen Schulen Emmendingen, hat sie interviewt.

Zischup: Wann fing deine Migräne an?
Alicia: Als ich sieben Jahre alt war.

Zischup: Wie war das für dich, deine Familie und Freunde?
Alicia: Es war und ist schrecklich für mich. Meine Familie unterstützt mich zum Glück sehr. Gute Freunde verstehen mich und halten zu mir, aber ich habe auch schon Freunde durch meine Krankheit verloren, weil sie einfach nicht damit umgehen konnten.

Zischup: Wie wirkt sich die Migräne auf dein Leben aus?
Alicia: Ich kann nie wirklich planen. Man kann nicht voraussagen, wann die Attacken kommen. Manchmal habe ich drei Attacken in der Woche. Manchmal aber auch nur eine. Ich muss im stockdunklen Zimmer liegen. Licht, Geräusche und auch Gerüche kann ich bei den Attacken nicht ertragen. Besonders im Sommer ist das fast unerträglich. Die Migräne kommt auch in schönen Zeiten, wie in den Ferien oder wenn ich eingeladen bin. Als Kind habe ich einige meiner Geburtstagsfeiern mit Ohrenstöpseln im dunklen Kinderzimmer verbracht, während meine Gäste bei uns im Garten gefeiert haben. Die Migräne ist tückisch. Sie kommt ohne Vorwarnung.

Zischup: Wie wurde in deiner Schule mit dem Thema Migräne umgegangen?
Alicia: Meistens sehr verständnislos. Es wurde keine Rücksicht darauf genommen und nicht so ernst genommen, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich hatte immer viele Fehlzeiten. Den verpassten Stoff musste ich nachholen. Meine Mutter musste mich daheim unterrichten. Viele Lehrer wollten jedes Mal ein Attest, obwohl ich eine generelle ärztliche Bescheinigung über meine Krankheit hatte. Das war zusätzlich belastend. Ich habe viel Lebenszeit in Arztpraxen verbracht. Nach der achten Klasse habe ich wegen des schlimmen Mobbings die Schule gewechselt. In der neuen Schule hat mir mein Klassenlehrer gezeigt, dass ich wertvoll bin. Dafür werde ich ihm mein ganzes Leben dankbar sein. Mit seiner Unterstützung konnte ich einen guten Abschluss machen.

Zischup: Wie haben deine Mitschüler reagiert, du sagst, es gab auch Mobbing?
Alicia: Ja! Meine Mitschüler sagten immer, ich nähme meine Krankheit als Vorwand, nur um nicht in die Schule zu müssen. Sie dachten, ich hätte mehr Zeit auf Arbeiten zu lernen, da ich oft nachschreiben musste. Das war natürlich nicht so. Ich finde es auch schade, dass viele Lehrer kein Verständnis zeigten. In der Grundschule wurden ich und auch andere Kinder von meiner Lehrerin gemobbt, da begann meine Migräne und wurde bald chronisch. Ich hatte keine schöne Schulzeit.

Zischup: Wie fühlen sich betroffene Kinder?
Alicia: Sie fühlen sich nicht verstanden und alleine. Migräne ist eine Behinderung, chronisch kranke Patienten können eine Anerkennung auf Schwerbehinderung einreichen. Man sieht es ihnen aber nicht an. Migränepatienten sehen ganz normal aus. Migränepatienten können lachen und Spaß haben. Man lernt, mit ständigen Schmerzen zu leben. Man ist niemals ganz schmerzfrei. Wenn aber Stress und Anspannung dazu kommt, ist man nicht mehr im Stande einen klaren Gedanken zu fassen oder sich zu konzentrieren. Das ist das Problem. Ich hatte mit zehn Jahren eine ambulante Therapie im Freiburger St. Josefs Krankenhaus. In der Gruppe waren viele Kinder.

Zischup: Was hast du dort gelernt?
Alicia: Ich hatte dort zum ersten Mal das Gefühl, dass ich nicht die Einzige bin, bei der etwas nicht stimmt. Es gab dort Mädchen, die auch schlimm betroffen waren und zum Beispiel ohnmächtig wurden bei Attacken. Wir haben den Kopfschmerz gemalt, um uns so ein Bild davon zu machen. Das hat geholfen, hat mich aber nicht geheilt.

Zischup: Wie sah dein Kopfschmerz auf deinen Bildern aus?
Alicia: Ich habe mir gemeine, hässliche, kleine Männchen mit langen Bärten und schlechten Zähnen vorgestellt, die mit Presslufthämmern und Spitzhacken hinter meinen Augen hacken, hämmern und bohren.

Zischup: Nach dem Schulabschluss warst du in der Schmerzklinik Königstein. Was hast du dort erlebt?
Alicia: Ich war fünf Wochen stationär in der Migräneklinik. Es war eine wertvolle Erfahrung. Ich konnte viele Therapien ausprobieren und entscheiden, welche gut für mich sind.

Zischup: Welche Therapien konntest du probieren?
Alicia: Qigong, progressive Muskelentspannung, Wassertreten, Eisabreibungen, Elektrotherapie, psychologische Gespräche und Verhaltenstherapie. Sogar Schröpfen konnte ich dort kennenlernen. Wir haben viel Sport wie Yoga, Pilates und Ausdauersport gemacht und hatten regelmäßig physiotherapeutische Anwendungen. Besonders wichtig war mir der Kontakt zu den anderen Patienten. Es gab auch einige Patienten in meinem Alter. Alle hatten eine ähnliche Geschichte. Vielen ging es noch viel schlechter als mir. Es gab viele Clusterpatienten, die manchmal geschrien und gegen die Wände geschlagen haben vor Schmerz. Ich konnte unter ärztlicher Aufsicht verschiedene Medikamente ausprobieren und wurde medikamentös komplett neu eingestellt.

Zischup: Hat dir der Aufenthalt in der Klinik geholfen?
Alicia: Auf jeden Fall. Ich kann viel von dem, was ich gelernt habe, daheim umsetzen. Ich nehme täglich mehrere Medikamente zur Prophylaxe und starke Schmerzmittel bei akuten Attacken. Damit komme ich im Moment ganz gut zurecht. Bald wird eine Migräne-Impfung in Deutschland zugelassen. Das gibt Hoffnung.

Zischup: Wenn du die Uhr zurückdrehen könntest, was würdest du den Menschen, besonders den Lehrern und Mitschülern, sagen?
Alicia: Ich würde sie besser über meine Krankheit aufklären. Mittlerweile gibt es auch im Internet viel Informationsmaterial und Studien, die zeigen, dass es Migräne wirklich gibt und dass es nicht das Hirngespinst fauler Schüler ist. Ich würde auch im Nachhinein gerne vor die Klasse treten und sagen: Urteilt niemals über Dinge, die ihr nicht nachvollziehen könnt!

Zischup: Welche Tipps kannst du anderen Jugendlichen geben?
Alicia: Bittet eure Umgebung auf alle Fälle um Verständnis. Klärt sie über die Krankheit auf. Ihr seid nicht alleine! Gründet eine Migräne-Gruppe. Schließt euch zusammen. Nur gemeinsam ist man stark! Und denkt immer daran: Ihr seid wertvoll!
* Name anonymisiert

Ressort: Schülertexte

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 27. April 2018: PDF-Version herunterladen

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