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Essstörungen

Im Internet wird gemeinsames Abmagern zum Wohlfühlkult

Stephanie Streif
  • Mo, 23. Januar 2017, 18:05 Uhr
    Liebe & Familie

Ana steht für Anorexie. In vielen Internetforen und sozialen Netzwerken ist "Pro Ana" zum hippen Lifestyle geworden: Junge Menschen wollen sich gemeinsam krank hungern.

Essstörungen sind längst nicht mehr nu...e, sondern werden auch online geteilt.  | Foto: Susann Prautsch
Essstörungen sind längst nicht mehr nur Privatsache, sondern werden auch online geteilt. Foto: Susann Prautsch
Im Netz schreibt sich Sasu ihre Seele wund: Sie notiert in ihr Online-Tagebuch, was sie sieht, wenn sie in den Spiegel blickt ("...will mich sehen, will mich finden. Doch erblicke eine fette Kreatur"), wie es ihr beim Einschlafen geht ("Ich habe richtig Krämpfe und Übelkeit, neben meinem Zimmer liegt die Küche. Höre den Kühlschrank brummen, darin sind noch zwei Frikadellen...") und dass sie ihr altes Leben zurück haben will, ihr Ana-Leben ("...ich will zitterige Knie, wenn ich Treppen laufe. Ich will hungern ...").

Was oder wer Ana ist? Ana steht für Anorexie, Magersucht. Und Pro Anas sind Online-Bewegungen junger Menschen, die sich gemeinsam krank hungern wollen. Nur dass das Wörtchen "krank" in ihrem Vokabular nicht vorkommt. Denn "Pro Ana" ist für sie hipper Lifestyle und Ana eine gute Freundin. In einem fiktiven Brief, der in den Nullerjahren im Netz aufgetaucht ist, stellt sich Ana sogar persönlich vor: "Meine Name – oder wie mich die sogenannten Ärzte nennen – ist Anorexia … aber du kannst mich Ana nennen."

Magersucht wird zum Massenphänomen

Abnehmen wollen ist für viele Mädchen Pflicht: Das Robert-Koch-Institut hat in einer Studie gezeigt, dass nahezu jedes dritte Mädchen im Alter von 11 bis 17 Jahren Symptome einer Essstörung aufweist. Magersucht wird zum Massenphänomen. Das Netz tut mit. Es quillt über von Filmen, Fotos, Websites und Community-Beiträgen, die abgemagerte Mädchen zeigen und das Dünnsein mit Sprüchen wie "Schau in den Spiegel und finde sieben Fehler" zum Muss erklären. Wer gezielt sucht, stößt ruckzuck auf Tipps, wie man sich am besten übergibt und was gegen Hunger hilft. "Iss doch Watte, Moppelchen" ist einer von 85 Tipps, die auf Proanaproinvisible.blogspot.de gelistet werden. Auch Bulimikerinnen haben im Netz längst ihr personifiziertes Idol kreiert, Mia heißt es und leitet sich von Bulimia nervosa ab.

Wie viele Pro-Ana- und Pro-Mia-Angebote es tatsächlich gibt, lässt sich nicht beziffern. "Die Fluktuation ist groß", schreibt Katja Rauchfuss von Jugendschutz.net in der Fachzeitschrift "Thema Jugend". Webistes, die heute noch online seien, können morgen schon gesperrt oder aufgegeben sein.

Auch Lilli (Name von der Redaktion geändert) hat sich im Netz Anregungen zum Dünnerwerden geholt. Lilli war als 14-Jährige Patientin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Freiburger Uniklinik. In nur drei Monaten hat sie 15 Kilo von sich weggehungert. Manchmal gab es nur Kirschtomaten zum Essen, morgens eine, abends eine. Das war’s. So mit zwölf habe sie zum ersten Mal ans Abnehmen gedacht, erzählt sie. Lillis Mutter glaubt, dass auch "Germany’s Next Topmodel" ihrer Tochter Lust aufs Abnehmen gemacht hat. Lilli bestreitet das. Und erzählt, wie alles angefangen hat: "Meine Freundin und ich wollten einfach nur dünner werden, also haben wir uns zum Ziel gesetzt, in zwei Wochen vier Kilo abzunehmen."

Magerbotschaften im Social Web werden tausendfach geteilt

Ihr Ziel haben beide erreicht. Lillis Freundin hatte danach keine Lust mehr auf Diät. Lilli schon. Sie habe weitergemacht, obwohl es alleine nicht mehr ganz so einfach gewesen sei. Um dranzubleiben, hat sie sich auch immer mal wieder Unterstützung aus dem Netz gezogen, allerdings nicht aktiv in Foren oder Chats. "Ich habe nur nach Fotos dünner Mädchen und nach Motivationssprüchen gesucht. Einer ist ihr noch im Kopf: "Erzähle nicht jedem deinen Weg, sondern zeige Ergebnisse." Ob ihr das beim Abnehmen geholfen hat? Lilli denkt nach, zuckt die Schultern. "Am meisten hat mich motiviert, dass die Waage immer weniger angezeigt hat."

Vor allem im Social Web erreichen die Magerbotschaften schnell hunderte Follower und werden tausendfach geteilt. Auf Twitter zum Beispiel nehmen Mädchen unter Hashtags wie #paperwaistchallenge oder #bellybuttonchallenge an Magerwettstreits teil. Dort posten sie Fotos von sich in Tops und Leggins, auf denen sie ein DINA4-Papier hochkant auf Bauchhöhe halten. Verschwindet ihre Taille dahinter komplett, haben sie bestanden.

Übers Netz rekrutieren die Pro-Anas ständig neue Mitglieder. Besonders beliebt – die Twin-Suche. Ein Twin ist ein Mitzwilling. Genauso groß, gleiches Gewicht, und darum wie gemacht zum gemeinsamen Abnehmen. Unzählige Beiträge sind dort mit dem Hashtag #anabudddy markiert. Viel zu schnell werden in Foren und Chats Kilos, Fotos und sogar Handynummern ausgetauscht, um über WhatsApp auch in Kleinstgruppen weiterchatten zu können. Die Schweizer Journalistin Nadja Brenneisen hat sich zu Recherchezwecken unter falschem Namen in eine solche Pro-Ana-Whatsapp-Gruppe eingeschlichen und stieß dort prompt auf den selbst ernannten Abnehmcoach Andrée, der Brenneisen dazu bringen wollte, ihm Nacktbilder von sich zu schicken.

Gefährlich sind die Bilderwelten vor allem, weil sie oft nicht real sind

Gefährlich sind die im Social Web gehypten Bilderwelten vor allem auch deshalb, weil sie oft nicht real sind, sondern nachbearbeitet wurden. "Auf den ersten Blick", so Johanna Quinten vom Frauen- und Mädchengesundheitszentrum in Freiburg, "wirken sie sehr authentisch. Auch weil sie über Peers verbreitet werden." Viele Teenager realisieren das nicht. Sie sehen nur, dass die Mädchen auf den Fotos so viel dünner sind als sie selbst. Und diese Fotos müssen nicht einmal Pro Ana sein. Auch junge Mode- oder Lifestyleblogs kommunizieren mit ihren Fotos an der echten Welt vorbei. Der von Xeniaoverdose zum Beispiel, einer von Deutschlands erfolgreichsten Bloggerinnen. Von ihren Schulbesuchen weiß Quinten, dass sich dort viele Mädchen tummeln. Das Problem: "Wenn ich nur noch solche Körper sehe, dann setzt sich das fest." Und schon ist die eigene Körperwahrnehmung verrutscht. Dünn ist nicht mehr dünn genug und die Online-Identität übernimmt.

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Ressort: Liebe & Familie

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mo, 23. Januar 2017: PDF-Version herunterladen

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