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Rollenspiel

Süchtig nach "World of Warcraft"

  • Mi, 16. April 2014, 08:00 Uhr
    Liebe & Familie

Für ihn sind die Fantasiegestalten aus dem Computerspiel "World of Warcraft" ähnlich vertraut wie seine Eltern und Geschwister. Ein Jugendlicher erzählt von seiner Sucht.

Schöne Welt im Internet: Szene aus „World of Warcraft“  | Foto: World of warcraft
Schöne Welt im Internet: Szene aus „World of Warcraft“ Foto: World of warcraft
Manchmal ist er ein Ork – ein zorniger Kämpfer mit der Axt. Manchmal ein Nachtelf – einer aus der Schar eines zurückgezogenen Volkes, aus deren Angehörigen Krieger, Priester oder Jäger werden können. Für Sven A.* (19) sind solche Fantasiegestalten aus dem Computerspiel "World of Warcraft" ähnlich vertraut wie seine Eltern und Geschwister. Es gab eine Zeit, da waren sie ihm beinahe wichtiger als alle, die ihm nahestehen. Inzwischen hat er das Gefühl, aus seiner Computerspielsucht herausgefunden zu haben. Doch er verbringt immer noch viel Zeit am PC.

Wer gut sein will, muss die Taktiken der Gegner kennen. Das braucht Zeit. Sehr viel Zeit. Sven A. erzählt, wie er anfing, sich mit Fantasiefiguren zu identifizieren, die Spielaufträge erfüllen, um sich eine gute Ausrüstung zusammenzustellen. Nur so werden sie stark. Sven A. ist ein zurückhaltender, nachdenklicher junger Mann, der in einem Dorf in der Umgebung von Freiburg lebt. Am PC ist er unendlich oft hin- und hergewechselt zwischen den Welten verschiedener Spiele und innerhalb der Spiele zwischen den Figuren. Er hat jede Gruppe, jedes Volk ausprobiert. Und er fand heraus: "Gefühle braucht man da nicht. Nur Befehle." Die Figuren sind willenlos, durch die Spieler gesteuert. Sven A. ist immer tiefer abgetaucht in künstliche Sphären, die ihm echter vorkamen als die Wirklichkeit. "Man hat ja seine Freunde dort. Man vergleicht sich mit ihnen: Wer ist stärker?" Es geht nicht nur um Kampf, sondern auch um Zusammenhalt – wenn Gruppen gegeneinander antreten.

Sven A. beschreibt, wie intensiv das ist: Wie zehn Spieler, Hunderte oder Tausende Kilometer voneinander entfernt, sich stundenlang keine Minute von ihren Rechnern wegtrauen, um den Sieg nicht zu gefährden. Er ist auf Spieler gestoßen, die das so exzessiv betreiben, dass sie sich nur noch aus Dosen ernähren und einen Eimer neben dem PC als Toilette benutzen. Solche Ausmaße hat es bei ihm nie angenommen. Er hat immer an den Mahlzeiten in seiner Familie teilgenommen – und er ging zur Schule. Dennoch ist seine Geschichte typisch für eine steigende Zahl überwiegend männlicher Jugendlicher, für die der Computer zum Fluchtort und Lebensersatz wird.

Wie viele Menschen heute computersüchtig sind, ist nicht genau bekannt, Studien gehen von ein bis fünf Prozent Betroffenen in der Gesamtbevölkerung aus. Computersucht hat unterschiedliche Ausprägungen: Von Internet-Pornographie, Online-Beziehungen, Glücksspielen oder Shoppingseiten können Menschen abhängig sein, vom unablässigen Surfen im Internet oder eben von Computerspielen. Wo fängt die Sucht an? Die AHG-Klinik Münchwies für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Suchtmedizin im Saarland ist eine von bisher wenigen in Deutschland, die sich speziell auch an Patienten mit pathologischem PC-Gebrauch wendet; sie gibt als Richtwert eine PC-Aktivität von mehr als 30 Stunden in der Woche an. Die American Psychiatric Association listet neun Punkte auf. Wenn fünf zutreffen, gilt jemand als computerspielsüchtig: Abhängige denken ständig an das Spielen. Sie fühlen Entzugserscheinungen. Sie verbringen mehr und mehr Zeit am PC. Sie können nicht aufhören, machen auch trotz negativer Folgen weiter. Andere Interessen verblassen. Sie spielen gezielt dann, wenn sie sich schlecht fühlen. Sie lügen, um das Ausmaß der Sucht zu verschleiern. Das alles ist brandgefährlich, denn Beziehungen zu Freunden, der Familie, den Kollegen können in die Brüche gehen, die Leistungsfähigkeit kann sinken, die Freude am Leben leiden.

Bei Sven A. ist es nie so weit gekommen. Er hat seinen Hauptschulabschluss gemacht – und das nicht schlecht. Inzwischen steckt er in einer Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik. Er will den Realschulabschluss und das Abitur nachmachen und studieren. Am liebsten Psychologie. Er will verstehen. Auch diese Frage: Was steckt hinter der Computersucht? Nicht nur bei ihm, auch bei den anderen, die ihm in der Anonymität des Internets begegnen. "Jeder hat eine andere Geschichte, einen anderen Einstieg", sagt er. Doch ein paar Dinge seien ähnlich: "Die meisten haben keine Bestätigung in der Schule und wenig Freunde. Am PC haben sie Erfolgserlebnisse." Die frühere Schule von Sven A. lag 30 Kilometer entfernt von seinem Heimatdorf, er konnte sich selten mit Klassenkameraden treffen, im Dorf hatte er kaum Freunde. Kontakt hatte er vor allem zu einigen älteren Jungs. Und die saßen am PC – viel, sehr viel. Als Zwölfjähriger stieg er in "World of Warcraft" ein. Die anderen waren gut, einer von ihnen lag in der besten Kategorie von etlichen Millionen Spielern weltweit. Das war eine Herausforderung für ihn, den "Kleinen", der jünger war und sich messen wollte. So fing es an.

In den extremsten Zeiten stand er morgens um fünf Uhr auf, spielte vor der Schule und danach gleich wieder – von 13 bis 21 Uhr, an Wochenenden ununterbrochen. Sein altes Hobby Fußball gab er auf. Der PC war spannender. "Ich hatte sonst nichts mehr, was mich interessierte." Die Eltern reagierten mit Verboten, er trickste sie aus. "Ich hatte das Gefühl, sie reißen mich von meinen Freunden weg. Ich wollte meine Freunde nicht im Stich lassen, sie nicht enttäuschen."

Das sind Symptome, die auch von der Münchwieser Klinik aufgelistet werden: Typisch für Computerspielsucht sei, dass die reale Umgebung hinter die Cyberwelt zurücktrete, Gefühle nur noch dort gespürt würden. Zwar glauben die Spieler, die Pseudo-Beziehungen in der virtuellen Welt seien steuerbar, zwar lösen sie weniger Angst aus als Kontakte in der wirklichen Welt – doch dieser Glaube ist trügerisch. Nur vordergründig stärkt das Hineinschlüpfen in verschiedene künstliche Charaktere das Selbstbewusstsein, ermöglicht Erfolgserlebnisse. Computersucht taucht oft gemeinsam mit Sozialphobie oder Depressionen auf. Typische Begleitdiagnosen seien auch Autismus oder Lese-Rechtschreibschwäche, ist die Erfahrung der Freiburger Kinder- und Jugendlichenpsychiaterin Hege Maria Verweyen, die eine steigende Verbreitung der Computersucht feststellt.

Verbote der Eltern
bringen nichts

Ähnlich wie bei anderen Suchterkrankungen sei es sinnvoll, am Bindungsverhalten anzusetzen, sagt Reinhard Mumm, Chefarzt an der Heiligenfeld-Klinik Waldmünchen, einer psychosomatischen Klinik für Familien im Bayerischen Wald. Die Patienten sollen wieder lernen, ihre Gefühle auszudrücken: Angst, Wut und Schmerz. Dadurch können sie eine Beziehung zu sich selbst aufbauen – und zu anderen.

Sven A. sagt inzwischen über sich: "Ich spiele nur noch dann, wenn ich will." Das ist immer noch viel, wochentags sitzt er drei bis vier Stunden am PC, an freien Tagen bis zu 13 Stunden – allerdings nicht nur zum Spielen, auch zum E-Mail-Schreiben oder Musikhören. Und immerhin weniger als früher. Wie kam es zu der Wende? Es begann, als er 17 war, sagt Sven A., damals fing er an, viel mit seinem Opa zu unternehmen: "Er hat mir aus seinem Leben erzählt – fast alles, was er erlebt hat." Sven A. war viel mit ihm in seinem Garten. Und die gemeinsame Zeit war wertvoll und wichtig, weil beide wussten, wie begrenzt sie war: Der Opa war alt und herzkrank.

Inzwischen ist er gestorben. Die Erinnerung aber ist geblieben, und die Nähe zu seinem Großvater hat Sven A. verändert. Er hat begonnen, Sport zu treiben und innerhalb eines halben Jahres 20 Kilogramm abgenommen – früher hatte er Übergewicht. Sein Tipp für Eltern, die sich Sorgen um möglicherweise computerspielsüchtige Kinder machen: "Keine Verbote, die bringen nichts. Man muss ihnen den Rücken stärken, ihnen helfen, Freunde zu finden. Denn bisher fehlt ihnen etwas."
* Name geändert

Ressort: Liebe & Familie

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mo, 14. April 2014: PDF-Version herunterladen

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