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Neu im Bundestag

Raffelhüschen: "Es war völlig unerwartet"

  • Anna Guiziou, Klasse 9b, Deutsch-Französisches Gymnasium (Freiburg)

  • Do, 05. Mai 2022, 17:25 Uhr
    Schülertexte

     

Claudia Raffelhüschen (FDP) hat 2021 im Wahlkreis Freiburg für den Bundestag kandidiert. Durch die Landesliste ist sie in den Bundestag nachgerückt. Ein Interview über ihre Erfahrungen im Bundestag und ihr jetziges Leben in Berlin.

Claudia Raffelhüschen und Anna Guiziou  | Foto: Privat
Claudia Raffelhüschen und Anna Guiziou Foto: Privat
Zischup: Können Sie zu jedem Buchstaben Ihres Vornamens CLAUDIA ein Adjektiv nennen, welches zu Ihrer Person passt?

Raffelhüschen: Eine schöne Frage! Hm, vielleicht C wie charmant, L wie leistungsorientiert. A wie vielleicht attraktiv? Da gibt es natürlich verschiedene Meinungen. U wie oft unsicher, D wie dankbar und I wie interessiert. Ich interessiere mich für alles und besonders für Menschen. Und dann nochmal A: arbeitsam.

Zischup: Sie haben Volkswirtschaftslehre studiert und waren bis vor den Wahlen Dozentin an der Steinbeis-Hochschule Berlin (Standort Freiburg) und der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Freiburg. Woher kam Ihr Interesse dafür, in die Politik einzusteigen?

Raffelhüschen: Ich habe mich immer mit Sozialpolitik und Sozialversicherungsthemen beschäftigt. Und da gibt es ein paar Themen, wie zum Beispiel die Rente, da funktioniert unser System nicht mehr. Aber dennoch reformiert man es nicht, weil vielleicht die meisten Wähler mittlerweile Rentner sind. Dass man da nicht rangeht, um ihnen zu sagen: "Ihr müsst auch mal was abgeben im Sinne der Solidarität." Das hat mich unglaublich aufgeregt, weil das natürlich wahnsinnige Schulden für euch und für zukünftige Generationen bedeutet. Dann ging das los mit FFF und ich dachte mir: Ich finde es so toll, dass jemand jetzt auf die Straße geht und für die Zukunft kämpft, aber wenn ihr wüsstet, welche Politik jeden Tag auf eure Kosten gemacht wird, dann wärt ihr jeden Tag auf der Straße. Als der Anruf kam und ich gefragt wurde, ob ich kandidieren will, dachte ich: Nicht immer nur meckern, jetzt packen wir mal an.

Zischup: Seit 2020 engagieren Sie sich für die FDP. Wie kamen Sie auf die FDP und warum sind Sie eingetreten?

Raffelhüschen: Es ist gar nicht die Politik, sondern die Haltung, die ich habe, die liberale Haltung. Ich bin der Meinung, dass man immer zusammenstehen muss. Man muss sich um die Schwachen kümmern, aber jeder muss erstmal für sich das Beste geben. Nicht immer gleich um Rat schreien, sondern erstmal gucken, was kann ich leisten. Und wenn ich es nicht schaffe, dann kommt die Solidargemeinschaft und hilft. Das ist meine grundfeste Überzeugung. Ich glaube auch daran, dass in jedem irgendetwas steckt, was ihn antreibt und was er für die Gesellschaft machen kann. Deshalb bin ich bei der FDP gelandet.

Zischup: Woher kamen Sie auf die Idee, für die Bundestagswahlen zu kandidieren?

Raffelhüschen: Das war gar nicht die Idee. Als man mich gefragt hat, ob ich den Wahlkampf für Freiburg machen wolle, hat man mir gesagt, es bestehe keine Gefahr, dass ich in den Bundestag komme, weil der Listenplatz so weit hinten ist. Deswegen sagte ich, ich mache den Wahlkampf: Ich kämpfe auch für alle Unternehmer, die hier jeden Tag viel leisten, aber keiner denkt an sie und daran, dass der Wohlstand von ihnen kommt. Dann war das Ergebnis nachher aber so gut, dass ich doch in den Bundestag gekommen bin. Aber mein Ziel war es nicht.

Zischup: Wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass Sie in den Bundestag nachgerückt sind?

Raffelhüschen: Ich war total geschockt. Der Anruf kam um vier Uhr morgens und ich dachte: Das darf jetzt nicht wahr sein! Das war nicht in meiner Lebensplanung drin. Also habe ich meine Sachen gepackt und bin mit dem ersten Zug nach Berlin gefahren. Aber es hat lange gedauert, bis ich es realisiert habe, dass ich jetzt da bin.

Zischup: Inwieweit hat der Eintritt in den Bundestag Ihr Leben verändert, auch im Verhältnis zu Ihrem Mann und Ihren drei Kindern?

Raffelhüschen: Total. Erst hieß es: eine Woche Berlin, eine Woche Wahlkreis. Aber jetzt in den Haushaltswochen ist man auch in den sitzungsfreien Wochen in Berlin. Mein Sohn muss sich um vieles kümmern. Es sind so banale Sachen. Mein Sport, ich kann mit meiner Mannschaft nicht mehr Tennis spielen. Viele private Sachen alle weg. Und wenn man dann nach Hause kommt, ist man so erschöpft, dass man einfach nur mal Ruhe braucht. Gesundheitlich muss man auch auf sich aufpassen, man hat kaum Zeit zum Essen, man schläft wenig. Es ist alles ganz schön durcheinandergewirbelt worden. Aber zum Glück unterstützt mich meine Familie dabei voll und ganz.

Zischup: Welche Eigenschaften braucht man unbedingt als Bundestagsabgeordnete?

Raffelhüschen: Das ist eine gute Frage. Das hängt natürlich davon ab, welches Ziel man verfolgt. Mein Ziel ist es, wirklich alles zu leisten, was ich zu leisten imstande bin. Da ich im Finanz- und Haushaltsausschuss bin, kontrolliere ich die Finanzen. Und zwar bei Soziales, in der Rente, bei der Entwicklungshilfe und in der Familienpolitik. Da muss ich mich unglaublich einlesen, dahinter schauen, wie funktioniert was. Ich habe zwar Volkswirtschaft gelernt und studiert, aber das ist so viel, man muss unglaublich fleißig sein, diszipliniert. Es ist mindestens ein Zwölf-Stunden-Tag, das muss man wissen. Dann muss man natürlich auch offen sein, kompromissfähig. Man kann nicht immer seinen Kopf durchbringen, sondern man muss das aushalten, dass man auch mal sagt: Okay, ich bin nicht ganz eurer Meinung, aber vielleicht kommt ihr dann in anderen Punkten auf mich zu.

Zischup: Sie dürfen als Bundestagsabgeordnete Mitarbeiter für sich einstellen. Wie läuft dieses ganze System?

Raffelhüschen: Es läuft so: Noch nicht in Berlin angekommen, da hat man schon viele E-Mails bekommen. Von Mitarbeitern, die ihren Chef verloren haben, weil er nicht gewählt wurde oder weil sie mal den Chef wechseln wollen. Manche wollen zum Beispiel auch nicht mehr für die CDU arbeiten, wie bei meinen Leuten, die sind auch noch jung und wollten für die FDP arbeiten. Dann macht man Termine mit ihnen, unterhält sich – wie im normalen Arbeitsleben auch. Dann muss man einfach sein Herz aussprechen lassen und vertrauen, dass man die richtige Entscheidung trifft. Also bisher habe ich es noch keine Sekunde bereut, ich habe ganz tolle Mitarbeiter.

Zischup: Wer steht Ihnen zur Seite, wenn Sie mal dringend einen Rat brauchen?

Raffelhüschen: Mein Mann. Immer. Fachlich, wenn ich etwas nicht verstehe, kann er unglaublich gut erklären, sehr anschaulich, sodass man es danach nie wieder vergisst. Und dann auch so. Vor meiner ersten Rede, als ich fast verzweifelt bin, sprach er mir Mut zu: Das haben schon ganz andere geschafft. Alle kochen nur mit Wasser. – Das sind so die typischen Sprüche.

Zischup: Wie sieht Ihre Arbeitswoche aus? Wie schaffen Sie es abzuschalten?

Raffelhüschen: Wenn ich in Berlin bin, bin ich um fünf Uhr wach, weil ich nicht mehr schlafen kann. Um sechs Uhr habe ich es beibehalten, joggen zu gehen, das brauche ich. Allerspätestens bin ich um acht im Büro, manches geht auch schon um 7.30 Uhr los. Freitags haben wir einen Ausschuss, der immer um 7.30 Uhr tagt. Dann geht man in den Ausschuss, danach wieder schnell ins Büro, bespricht mit seinen Mitarbeitern, was los ist. Ich treffe die ganze Zeit Leute, die mir ihr Anliegen unterbreiten, und erfahre, was sie bedrückt, zum Beispiel in der Entwicklungshilfe. Dann kommen Organisationen auf mich zu und sagen: "Also, wir leisten das und das und dafür hätten wir gerne mehr Geld", ich höre mir das an. Wir haben natürlich Fraktionssitzungen, alle Abgeordneten von der FDP kommen einmal in der Woche zusammen. Dann haben wir eine Sitzung von allen FDP-Abgeordneten, die aus Baden-Württemberg kommen, und dann hat man auch noch viele Videokonferenzen und abends Geschäftsessen. Wenn man Glück hat, ist man um 22 Uhr zu Hause. Das schlaucht natürlich eine Woche lang. Wenn ich zurückkomme, will ich erstmal ausschlafen. Ich laufe dann meine alte Laufstrecke, wasche Wäsche, das Übliche.

Zischup: Welche schlechten Seiten sehen Sie an Ihrer Arbeit, die Sie unbedingt verbessern möchten?

Raffelhüschen: Ich habe jetzt entdeckt, dass viele Politiker Sachen oder Probleme nicht anpacken, weil sie sagen: "Das kriegen wir nicht gelöst oder das haben wir auch schon probiert." Sie sind irgendwie auch entmutigt, wenn es zum Beispiel darum geht, etwas zu entrümpeln, dort Geld einzusparen, dann stößt man auf viel Widerstand. Ich hoffe, dass ich noch lange die Kraft habe, da trotzdem dranzubleiben. Dass man hartnäckig bleibt, und sich nicht verbiegen lässt. Alles, was man sagt, findet die eine Hälfte gut, die andere Hälfte überhaupt nicht. Wir wollen immer jedem gefallen, aber es ist schwierig, weil man immer Widerstände hat. Dies muss man aushalten, lernen, damit um zugehen und es nicht persönlich zu nehmen. Das ist ein wichtiger Vorsatz.

Zischup: Viele politisch engagierte Personen bekommen Drohmeldungen oder Hassbriefe. Haben Sie auch schon etwas davon gespürt?

Raffelhüschen: Noch nicht so viel, das wird erst noch kommen. Aber bei der Frage um die Impfpflicht, da ging es drunter und drüber, jeden Tag viele E-Mails: Sie sind dafür verantwortlich, dass so und so viele tausend Menschen sterben, wenn sie die Menschen zwingen, sich impfen zu lassen. Das ist aber nicht persönlich, das geht dann an alle Abgeordnete. Oder jetzt mit der Ukraine, da wirft man den Politikern vor, dass an ihren Händen Blut klebt. Nach der 50. Mail in dem Wortlaut löscht man die weg, aber am Anfang geht das einem schon nahe.

Zischup: Was ist Ihr größtes Ziel im Leben und in der Politik?

Raffelhüschen: Mein größtes Ziel in der Politik ist, etwas zu bewirken, also dass sich das auszahlt, dass ich mich eben nicht verbiegen lasse. Zum Ziel gehört auch, dass ich standhaft bleibe und für die zukünftigen Generationen eintrete. Man kann vieles einfach nicht so laufen lassen, wie es im Moment läuft. Da muss ich auch manchmal gegen meine Koalition sprechen. Klar, viele junge Abgeordneten wollen natürlich Projekt realisieren, damit sie sagen können: Schaut mal, das habe ich jetzt gemacht. Ich bin im Haushaltsausschuss, ich passe aufs Geld auf, also ich kann mich nicht schmücken. Es interessiert niemanden, ob ich Millionen eingespart habe. Aber dennoch will ich nicht aufgeben, dafür zu kämpfen, dass weniger Schulden angehäuft werden. In meinem Leben ist mein Ziel, dass ich, nach den vier Jahren oder vielleicht kommen nochmal vier Jahre dazu, darauf zurückblicken kann, was ich erreicht habe und darauf stolz bin. Dass ich nicht sagen muss: Also, siehst du, so habe ich mal angefangen und so habe ich geendet. Es gibt auch viele Politiker, die ihr Fähnchen immer in den Wind hängen wollen. Das sagt man so dahin, ist aber gar nicht so einfach.

Zischup: Wie sehen Sie die Zukunft Deutschlands?

Raffelhüschen: Diese ganzen Sachen, die jetzt auf uns zugeströmt sind, Corona und die Ukraine, sind auf ein Land zugekommen, was sehr reich ist. Vor Corona, war Deutschland so wohlhabend wie noch nie, aber es ist den Leuten nicht bewusst gewesen. Sie haben alles so hingenommen. Ich befürchte, dass das der Höhepunkt war und dass wir jetzt erstmal durch eine Tal-Zone müssen. Wir häufen wahnsinnig viele Schulden an, das mag auch richtig sein, Corona, Ukraine, wir müssen den Leuten helfen, aber das muss auch bezahlt werden. Wenn man immer nur Geld druckt, befürchte ich, dass eine schwere Inflation auf uns zukommt. Alles wird teurer, es wird sich etwas verändern. Vielleicht denkt man nochmal an die Zeit zurück und sagt dann, früher war alles besser, das sagt man ja immer.

Ressort: Schülertexte

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