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München

Strafgefangene werden zu Unternehmern ausgebildet

Patrick Guyton
  • Sa, 29. April 2017, 00:00 Uhr
    Deutschland

Vom Heroin-Dealer zum Metall-Facharbeiter: In München-Stadelheim werden Strafgefangene im Projekt "Leonhard" zu Unternehmern ausgebildet.

  | Foto: dpa
Foto: dpa
Jetzt kann Alexander B. im Café Kulisse draußen in der Sonne sitzen. Es liegt am langgestreckten Günzburger Marktplatz mit seinen schön restaurierten Prachthäusern aus dem 18. Jahrhundert. Ein Frühlingstag, Alexander B. blinzelt, trinkt einen Cappuccino, schaut auf diese Flaniermeile des bayerisch-schwäbischen Städtchens und sagt: "Günzburg ist eine tolle Stadt. Gerade richtig: klein, überschaubar, aber alles da – und man kennt sich noch."

Seine Schicht als Metall-Facharbeiter ist um 14 Uhr zu Ende gegangen, er hat Zeit zum Erzählen. "Wir waren vier Bosse auf einer Ebene." Er war zuständig für den Schmuggel nach Deutschland, der Stoff kam hauptsächlich über Rotterdam. "Wir haben kiloweise mit Heroin gehandelt." Das Verbreitungsgebiet erstreckte sich quer über den Süden der Republik: "Augsburg, Heidenheim, Pforzheim", erinnert sich Alexander B. Er ist ein schlanker, durchtrainierter Mann, 29 Jahre alt, der immer wieder aufgeweckt schaut. Er hat es auch einem in Deutschland einzigartigen Gefängnis-Projekt zu verdanken, dass er nun in Freiheit einer normalen Arbeit nachgeht und sagt: "Dealen ist für mich ein für allemal abgehakt."

Über die Hierarchie des Drogenrings sagt er: "Die Kleinen unten habe ich gar nicht gekannt." Da war er 22. Eines Nachts um drei Uhr trat ein Sondereinsatzkommando der Polizei in Günzburg die Tür zu seiner Wohnung ein und nahm ihn fest. Alexander B. erhielt eine Gefängnisstrafe von neun Jahre und drei Monaten, viel mehr geht da kaum. Sechs Jahre saß er ab, dann kam er wieder raus. "Ich weiß nicht, wie viele Menschen durch meine Hand gestorben sind", sagt er. Und die Gefängnisstrafe? "Die hat sein müssen."

"Leonhard" heißt das Projekt in München, das auch Alexander B. gefordert und qualifiziert hat. Benannt ist es nach dem katholischen Heiligen Leonhard aus dem 6. Jahrhundert, dem Schutzpatron der Inhaftierten. Das Programm trägt den Untertitel: "Unternehmertum für Gefangene". Ziel ist es, Insassen in bayerischen Gefängnissen in einem 20 Wochen dauernden Kurs fit zu machen für das Leben und die Arbeit draußen – und für die Möglichkeit, ein eigenes, kleines Unternehmen zu gründen. Denn bei vielen Verurteilten besteht großes Potential, ist sich die Geschäftsführerin Maren Jopen sicher. "Es wurde nur in die falsche Richtung geleitet."

Acht Uhr morgens hinter den Mauern der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim. Bei "Leonhard" steht heute Vertriebstraining an. In einem Schulungsraum erzählen Häftlinge von ihren Business-Plänen, die sie erarbeitet haben. 16 Teilnehmer hat der Kurs, 23 bis 58 Jahre alt.

"Guten Morgen, bei mir gibt es hoffentlich bald die besten Döner der Welt", sagt ein junger Mann mit schwarzem Pferdeschwanz. Ein älterer Häftling will ein "Seminarzentrum für Bewusstseinsentwicklung" errichten und wirbt: "Gründe dein Leben, lebe deinen Traum." Weiter im Angebot: Herstellung von individuellen Design-Küchen, die Wiedereröffnung eines Fliesenlegerbetriebes oder eine MPU-Schule, bei der Kandidaten, die den Führerschein abgeben mussten, durch die Medizinisch-Psychologische Untersuchung gebracht werden – den "Idiotentest".

Bernward Jopen, Leonhard-Gründer und Vater von Maren Jopen, führt in Stadelheim durch den Vormittag. "Ich bin keine männliche Mutter Theresa", sagt er. "Wir machen aus Knackis tüchtige Unternehmer." Jopen, 74 Jahre alt, weiß-grauer Haarkranz, ist ein quirliger Mensch. Er führte selbst ein Unternehmen, das er im Ruhestand verkaufte. Mit Ruhe hat er es aber nicht. An der TU München unterrichtete er Studenten im Unternehmertum. Dann hörte er von einem Projekt in einem Gefängnis in Kalifornien, das Gefangene zu Selbstständigen ausbildet. Denn auf dem normalen Arbeitsmarkt haben sie wegen ihrer Vorstrafe häufig keine Chance. Er schaute es sich an und beschloss: "So etwas machen wir in Deutschland."

Geschäftsideen müssen die Häftlinge selber haben

An diesem Kurstag hat Jopen 20 Mentoren mitgebracht, Leute aus dem Münchner Geschäfts- und Wirtschaftsleben, die "Leonhard" ehrenamtlich unterstützen. Sie geben Kurse oder stehen wie jetzt für das Vertriebstraining zur Verfügung.

Die Häftlinge müssen dabei ihre Geschäftsidee verschiedenen Gesprächspartnern vorstellen und sie überzeugen. Es ist ein Rollenspiel. In vier Gesprächsrunden geben sich die Mentoren aus als: freundliche Kunden, unangenehme Kunden, kritische Investoren und ängstliche Verwandte.

Jeder Gefangene hat einen Partner, der Gong ertönt, 30 Minuten für Runde eins im Vertriebstraining. Der Fliesenleger wird gefragt, was er macht, wenn er im Bad versehentlich die Wanne des Kunden beschädigt. "Kein Problem", sagt er, "ich kontaktiere einen Kollegen, in zwei Stunden ist das geregelt." Der Imbiss-Mann muss erklären, wie er einerseits hochpreisige Premium-Döner anbieten und zugleich Schüler ansprechen möchte, die nicht viel Geld haben. Der Einbauer von Design-Küchen wird gefragt: "Wie können Sie bei diesem Preis genauso gut und zuverlässig arbeiten wie die Konkurrenz?" Es wird argumentiert, gefordert, nachgebohrt bei diesem Verkaufstraining. Gepokert, provoziert und ein bisschen geschwitzt.

Auch Mark C. war ein "Leonhard"-Teilnehmer, vor zwei Jahren wurde er entlassen. Jetzt ist der 33-Jährige für das Frühjahr und den Sommer komplett mit Aufträgen eingedeckt. Er ist selbstständig und montiert Photovoltaik-Anlagen auf Gebäude, hauptsächlich auf große Industriedächer. Einen Angestellten hat er auch. "Wenn du den ganzen Tag gearbeitet hast, spürst du die Knochen", sagt er. "Aber so bin ich jetzt zufrieden." Mark C. saß drei Jahre wegen des Handels mit Haschisch. "Mir war vollkommen bewusst, was ich tat", sagt er rückblickend. Er hat selbst viel gekifft, ging als gelernter Koch mit einem Restaurant pleite, hatte einen "extrem hohen Lebensstandard". Über seine kriminelle Zeit sagt er: "Ich war ein egomanischer Arsch."

Mit einer früheren Jugendfreundin lebt er in Oberbayern auf dem Land. Aus dem Knast hatte er ihr einen Brief geschrieben, so wurde der Kontakt wiederbelebt. Abends und an freien Tagen kümmert er sich viel um den gemeinsamen sieben Monate alten Sohn. "Letzte Woche ist er zum ersten Mal gekrabbelt", jubelt er fast.

Die Statistik zeigt, dass "Leonhard" funktioniert. 60 Prozent der Teilnehmer finden einen Monat nach der Entlassung eine Beschäftigung oder studieren, knapp 30 Prozent machen sich selbstständig. Neun von zehn Absolventen bleiben nach Kenntnis der Organisation dauerhaft straffrei.

9500 Euro kostet ein Kurs mit 540 Stunden pro Teilnehmer. 80 Prozent davon übernimmt die Arbeitsagentur, der Rest wird aus Spenden finanziert. Aufgenommen werden Häftlinge, die eine gewisse Einsicht zeigen und "nicht ausschließlich anderen die Schuld an ihrer Situation geben", wie Maren Jopen sagt. Ausgeschlossen sind Sexualstraftäter und notorische Serienbetrüger. Über letztere sagt sie: "Wir fühlen uns solchen Menschen nicht gewachsen." In Baden-Württemberg wird nun möglicherweise ein ähnliches Projekt errichtet. Landespolitiker von den Grünen und der CDU jedenfalls werden "Leonhard" Anfang Juni einen Besuch abstatten.

Den gesamtwirtschaftlichen Nutzen haben die Jopens vom Institut für Unternehmensrechnung und Controlling der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ermitteln lassen. Demzufolge fließen für einen in das Projekt investierten Euro nach drei Jahren 1,70 Euro zurück. Denn die Kursteilnehmer leben danach meist nicht von Sozialleistungen, sondern arbeiten und zahlen Steuern. Für "Leonhard" ist es aber auch immer wieder bitter, so sagt Maren Jopen, "wenn Absolventen danach ihren Weg nicht finden und wieder einwandern".

In Stadelheim gibt es nun die Rückmeldungen der Mentoren an die Gefangenen. "Die harten Fakten haben ein wenig gefehlt, ein paar Zahlen", sagt etwa eine Frau, die ein Kommunikationsbüro betreibt. Aktives Zuhören sei wichtig, Augenkontakt. Ein BMW-Angestellter meint zu seinem Inhaftierten: "Etwas forscher auftreten, nicht durch Nachfragen verunsichern lassen." Und ein Mentor aus der Finanzbranche erklärt: "Schneller auf den Punkt kommen, offensiv beim eigenen Konzept bleiben, klare Ansagen machen."

Der ehemalige Dealer Alexander B. sagt über die "Leonhard"-Mitarbeiter: "Das sind echt krasse Leute. Die glauben wirklich noch an einen." Der gelernte CNC-Dreher erhielt im vergangenen Winter nach 40 Absagen tatsächlich die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch, trotz seiner Vergangenheit. Eineinhalb Stunden löcherte ihn der Fertigungsleiter. Und am Tag darauf noch einmal genau so lang der Geschäftsführer. "Das war eine harte Nummer." Alexander B. hat eine sieben Jahre alte Tochter, in ihren ersten sechs Lebensjahren saß er im Gefängnis. Im September wird sie eingeschult, die Schultüte hat er schon gekauft.

Ressort: Deutschland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Sa, 29. April 2017: PDF-Version herunterladen

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