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"Wer zu Fuß geht, ist reich"

  • Do, 02. April 2020
    Panorama

BZ-INTERVIEW mit dem Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar über die Lust am Gehen und an neuen Wegen.

Wer allein unterwegs ist, kann seinem eigenen Rhythmus folgen: Ein Mann geht vor einem Wald spazieren. Foto: Christoph Soeder
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Einfach ein bisschen in der Gegend herumlaufen: In Corona-Zeiten wird das Spazierengehen wieder populär. Wie man das möglichst gewinnbringend tun kann, darüber hat Claudia Füßler mit Bertram Weisshaar, der das Spazierengehen erforscht, gesprochen.

BZ: Herr Weisshaar, derzeit steht Millionen Deutschen als Freizeitprogramm in freier Natur nur das Spazierengehen offen, und das auch noch möglichst allein. Das ist doch furchtbar, oder?
Weisshaar: Jein. Es ist ja gut, dass wir das in diesen Zeiten noch dürfen. Diese Bewegungsfreiheit ist ein sehr hohes Gut, das merken selbst die, die sonst deutlich lieber fahren als gehen. Natürlich ist es schön, wenn man zu zweit oder in einer Gruppe unterwegs ist, man kann Gespräche führen entlang des Weges, sich gegenseitig auf Dinge aufmerksam machen, die man alleine vielleicht nicht entdeckt hätte. Das ist bereichernd. Andererseits kann, wer allein unterwegs ist, seinem eigenen Rhythmus folgen und sich seinen Gedanken hingeben. Ich nenne das Denkengehen. Das passt momentan ja auch sehr gut, die gegenwärtige Zeit gibt einem viel zu denken.
BZ: Was genau ist denn eigentlich ein Spaziergang?
Weisshaar: Ich würde da weniger die Zeit als Maßstab nehmen, sondern eher das Ziel. Das Kriterium ist die Absichtslosigkeit. Wenn ich einkaufen gehe, erledige ich einen Weg, dann ist das Gehen das Verkehrsmittel dafür. Spazieren geht man aus Lust am Gehen und aus Neugierde. Ohne räumliches Ziel. Das gibt es nur im übertragenen Sinn: Ich möchte nicht erreichbar sein und keine Arbeit tun.
BZ: Eine kleine Flucht aus dem Alltag?
Weisshaar: Ja, durchaus. Das Spazierengehen ist ja daraus entstanden, dass das städtische Bürgertum es sich etwa ab Beginn des 19. Jahrhunderts dank zunehmender Arbeitsteilung und Industrialisierung leisten konnte, freie Zeit zu haben. So etwas war ursprünglich nur dem Adel möglich und wurde entsprechend gepflegt: Ich muss nicht arbeiten und kann das zeigen, indem ich im höfischen Park spazieren gehe. Das hat das Bürgertum später aufgegriffen und wollte es dem Adel gleich tun, man zeigte: Schau her, auch ich kann es mir leisten spazieren zu gehen. Man promenierte und demonstrierte damit seinen Zeitreichtum.
BZ: Ist das heute auch noch so? Spaziergänger haben Zeit?
Weisshaar: Es ist wieder so, auch wenn es vielleicht nicht bewusst wahrgenommen wird. Wenn ich mit jemandem darüber spreche, dass es schöner ist, Wege zu Fuß zu gehen statt zu fahren, höre ich oft die Standardausrede: Das kann ich mir nicht leisten, so viel Zeit habe ich nicht. Es wird also registriert, dass jemand, der spazieren geht, die Zeit dafür hat. Zwischendurch galt ja mal das Auto als Statussymbol. Das ist vorbei. Heute ist reich, wer es sich leisten kann, die Wege zu Fuß zu absolvieren.
BZ: Was ist denn ein guter Spaziergang?
Weisshaar: Für mich ist das, wenn sich unterwegs etwas Überraschendes zeigt oder ereignet, das man gerne Zufall nennt. Wenn ich einen Bekannten treffe, mir ein Vögelchen vor die Füße fliegt oder ich besonders schöne Blüten in einem Vorgarten entdecke. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht da von einer Resonanz, wodurch wir uns wieder in Verbindung mit der Natur spüren. Gerade jetzt im Frühjahr ist dies eine große Sehnsucht bei den Menschen. Wer alleine geht, ist da natürlich aufmerksamer und mehr auf Empfang eingestellt, als wenn man im Gespräch mit jemandem läuft.
BZ: Also besser keine Musik oder Hörbücher auf den Ohren beim Spaziergang?
Weisshaar: Das kann man schon machen. Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, dass man sich selbst an den meiner Meinung nach sehr wertvollen Phasen der Langeweile hindert, wenn man sich pausenlos mit irgendeiner Art von Unterhaltung umgibt. Spannend finde ich allerdings sogenannte Hörspaziergänge oder Audio-Walks. Man kennt das Prinzip aus den Museen, inzwischen sind solche Hörspaziergänge zunehmend auch für den Stadtraum oder Landschaftsparks erhältlich. Das kann sehr bereichernd sein, sich beim Spaziergang etwas über die Umgebung anzuhören und so Neues zu entdecken.
BZ: Kann ich denn überall gleich gut spazieren gehen?
Weisshaar: Auf jeden Fall genießen wir es in solchen Gegenden, die wir als naturnah bezeichnen, besonders. Wir gehen ja nicht umsonst in Parks oder den Wald. Ich finde aber, dass auch Kontraste einen Spaziergang spannend machen können. Warum nicht mal bewusst ins Gewerbegebiet laufen oder an den Stadtrand? Ein beliebtes Spiel ist es auch, eine gerade Linie in den Stadtplan zu zeichnen und sich vorzunehmen, ihr zu folgen, was natürlich nicht geht, weil man ständig auf Hindernisse trifft. Dabei fallen einem Dinge auf, die man im Alltag völlig übersieht, die aber Teil der Realität sind. Die Akademie Land-Partie hat fünf Wanderungen entwickelt, die dem Denkweg quer durch Deutschland von Aachen nach Zittau folgen und bewusst Menschen aus der Stadt mit Menschen vom Land zusammenbringt: Wie werden die jeweils anderen und deren Lebensräume wahrgenommen? Sich von solchen Fragen beim Spazierengehen und auch Wandern leiten zu lassen, kann sehr überraschend sein.

Bertram Weisshaar, Jahrgang 1962, hat Landschaftsplanung studiert. Der Spaziergangsforscher lebt in Leipzig, er hat zahlreiche Hörspaziergänge entwickelt und ist Buchautor. Zuletzt erschien "Einfach losgehen – Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen" im Eichborn-Verlag.

Ressort: Panorama

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 02. April 2020: PDF-Version herunterladen

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