Vor der Europawahl
BZ-Gespräch mit Günther Oettinger in Freiburg: "Ich habe Brüssel sehr geliebt"
Europa wählt Europa im Juni – in Zeiten der vielen Krisen. In Freiburg analysierte der frühere EU-Kommissar Günther Oettinger die Lage und verteilte kleine Seitenhiebe.
Fr, 26. Apr 2024, 11:39 Uhr
Freiburg
Thema: Europawahl 2024
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"Golf ist mir zu langweilig", sagt Günther Oettinger schnell, auf die Frage, was er so treibe im Politik-Ruhestand. Da hat er sich am Donnerstagabend in der Freiburger Pauluskirche gerade erst hingesetzt. Am Vormittag war er noch in Berlin, dann der Flug nach Stuttgart in die alte politische Heimat, weiter nach Freiburg. Später will er noch eine Rede auf dem Dollenberg im Schwarzwald halten. Sein Vater habe auch bis kurz vor seinem Tod mit 82 noch in seiner Steuerkanzlei gesessen, sagt Oettinger. Für ihn ein Vorbild.
So mischt Oettinger, inzwischen 70, fünf Jahre nach seinem Abschied aus der Politik weiter mit. Er sitzt in Aufsichtsräten (etwa beim Maschinenbauer Herrenknecht), hat seine eigene Beratungsfirma Oettinger Consulting mit Sitz in Hamburg, ist Präsident einer hessischen Privathochschule – und kommentiert die politische Lage. Besonders leidenschaftlich macht er das, wenn es um Europa geht. In Brüssel war er knapp zehn Jahre lang EU-Kommissar – nur wenige deutsche Politiker kennen die Mechanismen der EU so gut wie der Schwabe.
Strebsame Polen, knorrige Iren: Oettinger schwärmt von seinem Job in Brüssel
Wenige Wochen vor der Europawahl haben die Landeszentrale für politische Bildung und die Badische Zeitung Oettinger zur europäischen Lageanalyse geladen: Wie geht es der EU in diesen Krisenzeiten? Erste Erkenntnis: Bei aller Kritik schwärmt Oettinger gern vom Kosmos Europa: "Ich habe Brüssel sehr geliebt", erzählt er den 150 Zuhörerinnen und Zuhörern. Wenn man mit Beamten aus ganz Europa an einem Tisch sitze, einem strebsamen Polen etwa, einem knorrigen Iren oder "einem Genussmenschen aus Belgien". Dann werde einem Europas vielschichtige Religions-, Kriegs- oder Kulturgeschichte noch einmal sehr deutlich. "Dagegen ist der Unterschied zwischen Freiburg und Stuttgart überschaubar".
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Doch Oettinger ist nicht nur EU-Anhänger, er ärgert sich – über Europas gefährliche Trägheit. Die wirtschaftlich viel stärkere EU müsse Russland und seinem Präsidenten Wladimir Putin energischer entgegentreten. ("Für mich der schlimmste Mensch nach Hitler"). "Wenn wir nicht in der Lage sind, kriegstüchtig zu werden, werden wir uns wundern, was an Frieden, Freiheit und Demokratie kaputtgeht", betont der 70-Jährige im Gespräch mit Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung und BZ-Chefredakteur Thomas Fricker.
"Was Macron an Empathie zu viel hat, hat Scholz zu wenig"Günther Oettinger
Oettinger ist überzeugt, für ein stärkeres Europa müssten vor allem Frankreichs Präsident Macron und Kanzler Scholz zusammenfinden. "Was Macron an Empathie zu viel hat, hat Scholz zu wenig", sagt der CDU-Mann. Scholz müsse Macron "die Hand reichen". Der Kanzler dürfe nicht den Fehler seiner Vorgängerin wiederholen, die auf Angebote aus Paris zu mehr Zusammenarbeit nie geantwortet haben. "Angela Merkel hat Macron am langen Arm verhungern lassen", sagt er.
Dass die Zeiten ungemütlicher werden, hat Oettinger schon in seiner Zeit als EU-Energiekommissar erlebt: Als Russland der Ukraine 2014 damit drohte, den Gashahn abzudrehen, verhandelte er tagelang über eine Einigung. Der Pakt galt als Durchbruch. Sie sicherten so die Gasversorgung. Doch es war nur ein Deal auf Zeit. "Wir haben Putins Charakter unterschätzt", sagt er heute.
Was hilft gegen den Erfolg der EU-Gegner?
Die Bedrohung für die EU aber kommt längst nicht nur von außen: Hat der EU-Kenner Ideen, wie sich die Wahlerfolge der Rechtspopulisten und sonstiger EU-Gegner stoppen lassen? Ein schnelles Gegenmittel fällt ihm nicht ein. Er meint, es helfe vor allem wirtschaftlicher Erfolg gegen Extremisten. Gerade beim Wirtschaftswachstum stünden die EU und besonders Deutschland aber schlecht da: "Wir schrumpfen." Seine Vorschläge: Eine kluge Politik für Infrastruktur, Industrie und Bildung müssten her. Für ihn ist klar: "Wenn die Menschen Wohlfahrtsverluste befürchten und zugleich die Migration nicht klug gesteuert wird, dann haben Populisten Chancen."
Der CDU-Mann stichelt gegen Parteifreundin von der Leyen
Und wie sieht er das aktuelle EU-Personal seiner Partei? Oettinger, der nicht nur dem drahtigen Kurzhaarschnitt treugeblieben ist, sondern in Brüssel auch sein schwäbisches Stakkato nicht verlernt hat, verteilt kleine Stiche: Als es um seine Parteifreundin an der Spitze der EU-Kommission geht, nennt er sie "Ursula von der Leyen, die ich eingeschränkt schätze". Und stichelt weiter via Kritik am stockenden Bürokratieabbau: Von der Leyen habe versprochen, für jede neue Regelung eine alte rauszuschmeißen. Das Gegenteil aber sei der Fall: Fliege eine Pflicht raus, kämen vier neue dazu.
Eher Diplomat ist Oettinger, wenn es um die CDU-Kanzlerkandidatenfrage geht: Ob Parteichef Friedrich Merz oder NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst antreten solle, wird er gefragt. "Merz und dann in 15 Jahren Wüst", sagt Oettinger. In der CDU ist der schwäbische Netzwerker noch immer bestens verdrahtet, im Alter gönnt er sich aber etwas Distanz. "Ich bin schon im Regelfall ein treuer CDU-Wähler", grinst er und schiebt hinterher "im Regelfall". Schmunzeln in der Pauluskirche – und eine weitere Erkenntnis: Ein dröger Technokrat jedenfalls ist Oettinger in Brüssel nicht geworden.
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