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Buchtipp

„Den Mund voll ungesagter Dinge“: Fehlt ein Mädchen-Gen?

Ursula Thomas-Stein
  • Di, 28. März 2017
    Literatur & Vorträge

Anne Freytag erzählt in "Den Mund voll ungesagter Dinge" eine Geschichte übers Erwachsenwerden.

Für die 17-jährige Sophie aus Hamburg ist es der Horror – nach München ziehen zu Lena, der Freundin des Vaters, den Kindern Leon und Valentin und dem Hund Carlos: "Ich bin ein Einzelkind ohne Haustiere mit einem Chirurgen als Vater. Mein Leben war tendenziell immer leise bis einsam. Und das war mir ganz recht." Eigentlich gönnt Sophie dem alleinerziehenden Vater den Neuanfang. Für sich lehnt sie alles ab. Die Kinder nennt sie ihre Nicht-Brüder und Lena eine verdammte Schleimerin: "Sie will, dass ich sie mag. Aber das wird nicht passieren."

Es wird noch einiges passieren. Die (selbst-)kritische Sophie, von ihrem Vater liebevoll "Motte" genannt, wird sich nach spannendem Auf und Ab zu einer lebensfrohen jungen Frau entwickeln, die auch sich selbst mag. Mit einem Kuss beim Flaschendrehen geht’s los. Sophies Gefühle fahren danach Achterbahn. Sie kann sich nicht erklären, warum Alex sie so anzieht; Alex ist kurz für – Alexandra. In ihrem mit- und hinreißenden Erzählstrom spiegeln sich ihre Verwirrung und ihre Zweifel wider. Von der Mutter gleich nach der Geburt verlassen, kreisen Sophies Gedanken sowieso oft darum, was normal ist. Sie überlegt, ob ihr ein Mädchen-Gen fehlt, weil sie immer nur Hosen anziehen wollte. Ob es für eine Familie normal ist, am Sonntag zusammen Kuchen zu essen oder von der (Stief-)Mutter etwas geschenkt zu bekommen, wenn man shoppen geht. Alles Dinge, die sie jetzt neu erlebt. Dass sie sie noch nicht genießen kann, ist nachfühlbar und stimmt traurig.

Währenddessen geht die Geschichte zwischen Sophie und Alex aufregend weiter: "Die Luft knistert wie ein Lagerfeuer, aber Alex schaut einfach nur einen Film. Ich sitze neben ihr und versuche nicht zu sterben. Und nicht an ihren nackten Körper zu denken, oder daran, wie es sich angefühlt hat, sie zu küssen." Unterhaltsam und witzig wirkt, wie Sophie bald die Vorteile erkennt, wenn ein Mädchen in ein Mädchen verliebt ist. Zum Beispiel: unauffälliges ungestörtes Zusammensein, Sex haben, ohne schwanger zu werden und zu zweit auf die Toilette gehen. Dass dieses Doppelleben nicht ewig gut gehen kann, wird ihr spätestens nach dem Skypen mit ihrem langjährigen Kumpel Lukas klar: "Bevor ich mit ihm gesprochen habe, waren Alex und ich einfach nur glücklich – jetzt sind wir plötzlich lesbisch." Lukas stellt auch die Frage, die beim Lesen interessiert: Was die Mädchen beim Sex eigentlich genau machen. Sogar darüber kann Sophie jetzt frei reden.

"Den Mund voll ungesagter Dinge" ist eine gelungene Geschichte übers Erwachsenwerden mit unaufdringlicher Aufklärung und eine wunderbar aufregende Lovestory. Als es zur Krise kommt und Sophie sich mitten in der Nacht zu Hause meldet, outet sich ihr Vater als total cooler Dad, der gleich kapiert, dass seine Tochter furchtbaren Liebeskummer hat. Dass es wegen eines Mädchens ist? Egal. Die beiden Freunde der Mädchen reagieren nicht so tolerant. Auch egal.

Anne Freytag: Den Mund voll ungesagter Dinge. Roman. Heyne fliegt Verlag, München 2017. 400 Seiten, 14,99 Euro. Ab 14.

Ressort: Literatur & Vorträge

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 28. März 2017: PDF-Version herunterladen

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