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"Er ergriff unkonventionelle Wege"

Lena Marie Jörger
  • Mi, 05. April 2017
    Emmendingen

     

BZ-INTERVIEW mit den Urururenkelinnen des "Struwwelpeter"-Autors Heinrich Hoffmann, der die Psychiatrie reformierte.

Urururenkelinnen des „Struwwelpe...na Hessenberg (links) und Nina Weniger  | Foto: Anton Weniger
Urururenkelinnen des „Struwwelpeter“-Autors: Johanna Hessenberg (links) und Nina Weniger Foto: Anton Weniger

EMMENDINGEN. Weil er kein passendes Buch für seinen Sohn fand, verfasste Heinrich Hoffmann selbst eines. Die Entstehungsgeschichte des Klassikers "Der Struwwelpeter" ist vielen unbekannt. Genau wie die Biografie des Au

tors, der als Reformator der Psychiatrie gilt. Diese Seite Hoffmanns thematisieren seine Urururenkelinnen Nina Weniger und Johanna Hessenberg am Freitag, 7. April, in einer Lesung im Zentrum für Psychiatrie. Mit Lena Marie Jörger sprachen sie vorab über Hoffmanns Arbeit, seine Ansichten und den "Struwwelpeter".

BZ: Sie können das Buch bestimmt auswendig.
Hessenberg: Der "Struwwelpeter" war immer sehr präsent bei uns zu Hause, wir bekamen oft daraus vorgelesen. Ich kann viele Passagen auswendig.
Weniger: Ich auch, genauso wie unsere Mutter, die Onkel, Tanten und Cousinen. Das gehört ganz selbstverständlich dazu.
Hessenberg: Unser Großvater Kurt Hessenberg, der Komponist war, hat auch eine Struwwelpeterkantate komponiert.
Weniger: Die können wir auch alle auswendig.
Hessenberg: Und unsere Großmutter hat früher im Struwwelpetermuseum in Frankfurt durch die Ausstellung geführt, da waren wir als Kinder oft dabei.

BZ: Wie reagieren Menschen, wenn sie erfahren, dass Sie Urururenkelinnen des Autors sind?
Weniger: Ich erzähle das eigentlich nur im Zusammenhang mit unserer Lesung. Viele Menschen stehen dem "Struwwelpeter" heute sehr negativ gegenüber, finden, dass es sich um "schwarze Pädagogik" handelt. Ich sehe das anders. Ich hatte nie Angst bei den Geschichten, mein Sohn auch nicht. Aber es sind Vorlesegeschichten: Man sollte Kinder damit nicht alleine lassen, sondern mit ihnen darüber reden, es erklären.
Hessenberg: Die meisten Menschen reagieren positiv, aber manche machen auch Kommentare, dass sie das Buch ganz schrecklich finden. Ich verstehe, warum manche Menschen so denken, kann die Gedanken aber nicht teilen, weil ich die Geschichte der Entstehung kenne.

"Er wollte, dass seine

Patienten vergessen könnten, dass sie in einer Anstalt

eingesperrt sind."

Nina Weniger
BZ: In dem Buch geht es ganz schön brutal zu: Dem Daumenlutscher zum Beispiel werden zwei Finger abgeschnitten. Auf den ersten Blick scheint es also eine Art Ratgeber für eine Erziehung voller Verbote und Angstmacherei zu sein. Tatsächlich aber nutzte Hoffmann diese Art von Geschichten, um Patienten zu beruhigen, richtig?
Hessenberg: Ja, genau. Die Geschichten sind im Krankenzimmer entstanden, um die Kinder abzulenken und um ihnen die Angst zu nehmen. Die Idee, daraus ein Buch zu machen, kam erst viel später.
Weniger: Hoffmann war auf der Suche nach einem guten Kinderbuch, fand aber nur ellenlange, ermahnende Texte ohne Bilder und vor allem ohne Humor. Er wollte ein lustiges, buntes Buch für seine Kinder haben, und da musste er es eben selbst schreiben.

BZ:
Bekannt wurde Hoffmann als "Struwwelpeter"-Autor, aber sein Lebenswerk war etwas anderes: die Reform der Psychiatrie im 19. Jahrhundert.
Weniger: Er war ein Humanist. Er war davon überzeugt, dass man psychisch Kranken eine angenehme Umgebung schaffen sollte, ihnen Konzertbesuche und Spaziergänge in schönen Gärten ermöglichen. Er wollte Licht und Luft für seine Patienten und dass sie möglichst vergessen könnten, dass sie in einer Anstalt eingesperrt sind.
Hessenberg: Einen verwirrten Patienten heilte er zum Beispiel, indem er ihm seine Geige aufs Zimmer bringen ließ. Er war ein guter Geiger und fand hauptsächlich durch die Musik den Weg zurück in sein altes Leben. Das finde ich eine wunderschöne Geschichte. Andere Ärzte hätten sicher ganz andere Maßnahmen ergriffen, aber Heinrich Hoffmann ergriff manchmal sehr unkonventionelle Wege, sogar aus Sicht unserer heutigen Zeit.

BZ: Hoffmann arbeitete in der "Anstalt für Irre und Epileptische" in Frankfurt. Die Zustände schockierten ihn und er entschloss sich zu einem Neubau. Heutzutage würde man sagen, er realisierte das Projekt per "Crowdfunding". Für die damalige Zeit sehr fortschrittlich.
Weniger: Genau. Es ist interessant, wenn man sich mit dieser 150 Jahre alten Geschichte befasst, wie vertraut einem vieles ist: Hoffmann schlägt der Stadt Frankfurt vor, eine neue, große schöne Anstalt mit großen Gärten zu bauen. Die Stadt ist begeistert – aber nicht bereit, dafür zu zahlen. Also muss er sich etwas anderes überlegen.
Hessenberg: Er konnte sehr gut schreiben und andere für seine Ideen einnehmen. Er veröffentlichte zum Beispiel in einer Zeitung ein fiktives Gedicht aus Sicht eines Patienten mit einem Spendenaufruf. Am Schluss bekam er auf diese Weise das Geld tatsächlich zusammen.

BZ: Nicht nur das war fortschrittlich, sondern auch die Klinik. Inwiefern?
Weniger: Die alte Anstalt muss schlimm gewesen sein: eng, stickig, mitten in der Stadt mit einem winzigen Gärtchen, Männlein und Weiblein zusammen, Tobsüchtige und Depressive in einer Zelle. All das wollte Hoffmann verbessern, und das ist ihm schließlich auch gelungen.
BZ: Ebenfalls fortschrittlich: Hoffmann wohnte mit seiner Familie in dem Neubau, quasi Tür an Tür mit den Patienten.
Hessenberg: Ja, ich finde es sehr beachtlich, dass er keine Berührungsängste hatte, sondern im Gegenteil der Überzeugung war, dass beide Seiten von einem Zusammenleben profitieren.
Weniger: Ja, das war zu dieser Zeit absolut modern. Ein Anstaltsleiter, der etwas auf sich hielt, wohnte auch in der Anstalt.
BZ: Was erwartet Besucher am Freitag?
Hessenberg: Sie bekommen einen Einblick in Hoffmanns Leben und seinen Werdegang als Psychiater. Es werden die Neuerungen, die er als Direktor der Frankfurter Nervenheilanstalt durchsetzte, beleuchtet und sein Wirken als Arzt. Anhand von Fallbeispielen bekommt man einen Einblick in seine sehr menschliche Art im Umgang mit den Patienten.
Weniger: Hoffmann war ein humorvoller Mensch und er konnte gut erzählen. In der Lesung gibt es viele Zitate aus seinen Memoiren, Berichte seiner Freunde, seines Vaters, historische Hintergründe, von denen man heute zum Teil nichts mehr weiß. Oder wussten Sie, dass man 1829 an der Zollstation zwischen Frankfurt und Heidelberg auf geschmuggelte Schokolade durchsucht wurde?

Die Lesung: Mit dem Kultur- und Freizeitangebot Komm (Kommunikation, Kreativität, und Kontakte) am Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in Emmendingen wird Hoffmanns Arbeit im Prinzip fortgesetzt. Regelmäßig finden Veranstaltungen – viele davon sind öffentlich – wie Theateraufführungen, Filmabende oder Konzerte statt. Damit werden den Patienten Möglichkeiten zur sinnvollen Freizeitgestaltung geboten. Unter dem Titel "Vom Sonnenaufgang" lädt das Komm-Team auf Freitag, 7. April, 19.30 Uhr, zur Lesung mit Musik mit Nina Weniger und Johanna Hessenberg in die Festhalle des ZfP ein. Der Eintritt kostet zehn (ermäßigt acht) Euro. Jugendliche bis 16 Jahre haben freien Eintritt.
Die Ausstellung: Bis zum 6. Mai ist "Die Entstehungsgeschichte des Struwwelpeters" im Foyer des Rathauses zu sehen. Das Komm-Team hat die Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Struwwelpeter-Museum in Frankfurt nach Emmendingen geholt.

INFO: Interviewpartnerinnen

Nina Weniger (48) lebt in Berlin und ist Rhetorik-Coach und freiberufliche Schauspielerin. Unter anderem war sie in Theaterrollen, Filmen und Fernsehserien wie dem "Tatort" zu sehen. Sie ist Mutter eines 19-jährigen Sohnes.
Johanna Hessenberg (35), wohnt ebenfalls in Berlin, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie arbeitet als freiberufliche Saxofonistin. Sie und Nina Weniger sind Urururenkelinnen von Heinrich Hoffmann (1809 bis 1894). Er arbeitete als Leicheninspektor, Anatomiedozent und Psychiater. Mehr als 30 Jahre war er leitender Arzt in der "Anstalt für Irre und Epileptische". Als bürgerlicher Liberaler saß er im Frankfurter Vorparlament. Er schrieb mehrere Gedichte, Geschichten und Satiren.

Ressort: Emmendingen

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mi, 05. April 2017: PDF-Version herunterladen

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