Politik der lauten Töne

Saskia Esken erzählt von ihrer Zeit als Straßenmusikerin und macht damit deutlich: Politik ist ein Geschäft für Leute mit Rhythmus im Blut. Ansichten zu Pop-Peinlichkeiten, Rock ‘n‘ Roll und Dudel-Diplomatie.  

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Blues Brother: Peter Struck (r.) sang ...sfraktion 2009.Foto: Wolfgang Kumm/dpa  | Foto: dpa
Blues Brother: Peter Struck (r.) sang zu seinem Abschied aus der Politik mit der Band 4Peppers beim Hoffest der SPD-Bundestagsfraktion 2009.Foto: Wolfgang Kumm/dpa Foto: dpa

Politische Wochen und Monate in Moll liegen hinter Saskia Esken. Erst die vergeigte Bundestagswahl, bei der die SPD mit Pauken und Trompeten unterging, dann zog Bandgenosse Lars Klingbeil auch noch andere Saiten auf, riss die Rolle des alleinigen Frontmanns an sich. Für Esken, seit 2019 Co-Vorsitzende, bliebt seitdem nur noch die Rolle als Begleitmusikerin. Die Darryl Jones der Sozialdemokratie, sozusagen, neben den Jaggers, Richards’ und Woods ihrer Partei. Auf dem Parteitag verabschiedete sie sich nun auch formal aus der SPD-Führung, die jetzt bas-lastiger wird.

Esken geht, aber nur ein bisschen: Sie bleibt dem Bundestag erhalten, seit Kurzem leitet sie dort den Bildungs- und Familien­ausschuss. Auf der Straße landen wird sie also nicht. Aber selbst wenn – sie würde schon klarkommen. Jedenfalls, wenn man ihr ein Instrument in die Hand drückte: Esken war früher Straßenmusikerin. Mit dem "Rolling Stone" hat sie nun über diese Phase in ihrem Leben gesprochen.

"Es war", sagt Esken im Gespräch mit dem Magazin, "sehr prägend für mich, weil es halt für eine 18- oder 19-Jährige eine Herausforderung ist, sich mit ihren zwölf Saiten hinzustellen und sich das zu trauen." Ihre Zeit als Straßenmusikerin war zwar schnell wieder vorbei. Esken, die auch als Paketbotin und Kellnerin jobbte, ließ sich zur staatlich geprüften Informatikerin ausbilden. Ein paar Lehren aber fürs spätere Leben in der Politik konnte sie von der Straße mitnehmen. "Es ist überall so, dass die Leute eher geben, wenn sie den Song kennen und womöglich sogar mitsummen können." Auf die SPD übertragen heißt das: "Wenn man Willy Brandt zitiert, gibt es Applaus."

Dass Esken hier nicht nur die Überfigur der deutschen Sozialdemokratie erwähnt, sondern auch den lässigsten Rock ‘n‘ Roller der bundesrepublikanischen Geschichte, ist vor ihrem künstlerisch-parteipolitischen Hintergrund natürlich diskussionswürdig. Willy Brandt, mit Kippe im Mundwinkel, im Jeanshemd mit hochgekrempelten Ärmeln, brauner Teint, versonnen in der ostwestfälischen Hitze auf einer Mandoline spielend – nie war ein Spitzenpolitiker cooler als in diesem entrückten, zur Ikone erstarrten Augenblick im Sommer 1976.

Esken gilt zwar nicht wirklich als cool. Aber es ist nie zu spät, es noch zu werden. Willy Brandt musste auch erst vom Kanzler zum Ex-Kanzler werden, um diese Aura des Entrückten zu erlangen. Außerdem wird die überbordende Coolness Brandts auf dem Mandolinen-Foto schnell auf Normalmaß gestutzt, wenn man weiß, dass der derart Porträtierte eigentlich als unmusikalisch galt. Das Instrument war denn auch gar nicht seins, sondern das eines Mitglied aus seiner Wandergruppe, mit der Brandt damals im Teutoburger Wald unterwegs war.

Trotzdem begründete Brandt damit gewissermaßen die Tradition der SPD als Partei des Rock ‘n‘ Roll. Gerhard Schröder kumpelte mit den Scorpions ab, Sigmar Gabriel wurde zu "Siggi Pop", Peter Struck, mit Hut und Sonnenbrille, sang zu seinem Abschied aus der Politik beim Hoffest der SPD-Bundestagsfraktion 2009, begleitet von einer Band, den "Jailhouse Rock" von Elvis. Lars Klingbeil war Sänger und Gitarrist in der Band Sleeping Silence, die man namentlich eigentlich eher Olaf Scholz zuschlagen würde (der übrigens im März, als frischer Wahlverlierer, bei einer Handwerksmesse herzhaft in eine Jazz-Trompete blies).

Klingbeil, was sich ja schon nach E-Gitarre anhört, wurde nach seinem Einzug in den Bundestag 2005 von der "Bild" zum "Reichstagsrocker" gekürt. Dass er im Frühjahr 2024 bei "Miosga" eine Liedzeile seiner früheren Lieblingsband Fury in the Slaughterhouse für ein Selenskyj-Zitat hielt, war aber einigermaßen unangenehm.

Wird Esken nicht passieren mit ihrem Lieblingskünstler, Neil Young, dessen Texte sie noch draufhaben dürfte. In den Straßen Süddeutschlands sang sie, so ist zu lesen, gern dessen Evergreens wie "Heart of Gold" oder "Helpless" (hier können Sie selbst einen Witz zum Zustand der SPD einfügen). "Rockin‘ in the Free World", einer von Neil Youngs All-Time-Klassikern, war von Esken indes nicht zu hören – als der Song 1989 erschien, war die musikalische Karriere der heute 63-Jährigen schon vorüber. Trotzdem gibt es seit vergangenem Jahr eine populäre Politiker-Version des Liedes: Antony Blinken, damals US-Außenminister, performte den Klassiker mit Gitarre und Band in einer schummrigen Kiewer Bar. Der Ukraine hat es nur bedingt geholfen. Aber die Bilder waren stark.

In den USA ist die Verbindung von Musik und Politik ohnehin einigermaßen tief. 1963 saß der drei Jahre zuvor bei den US-Präsidentschaftswahlen und wenige Monate vorher bei den kalifornischen Gouverneurswahlen unterlegene Richard Nixon in der TV-Show "The Jack Paar Program" am Klavier und spielte live ein Stück. De Amerikaner wählten ihn trotzdem fünf Jahre später zu ihrem 37. Präsidenten.

Bill Clinton, der vor seiner politischen Laufbahn mit dem Gedanken gespielt hatte, Musiker zu werden, trat im Wahlkampf 1992 mit Sonnenbrille und Saxofon in "The Arsenio Hall Show" auf. US-Außenministerin Condoleezza Rice, ausgebildete Pianistin, gab 2008 auf ihrer diplomatischen Abschiedstour im Buckingham-Palast ein privates Kammerkonzert für die Queen. Barack Obama rappte im Herbst vergangenen Jahres auf einer Wahlkampfveranstaltung der Demokraten den Eminem-Song "Lose Yourself". Seine Partei nahm es wörtlich.

Aber zurück auf den alten Kontinent, auf dem Musik schon immer politisch war und Politiker bisweilen musikalisch. Tony Blair etwa spielte in der Studentenband Ugly Rumours, was schon sehr nach 10 Downing Street klang. Für Vaclav Havel, den großen Intellektuellen und späteren Staatspräsidenten, war Rockmusik ein Hebel für den Widerstand gegen das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei. Havel hatte Verbindungen zur 1976 verbotenen Undergroundband The Plastic People of the Universe, organisierte Geheimkonzerte. Nach dem Ende des Sozialismus machte er seinen Freund Frank Zappa zeitweilig zum Sonderbotschafter für Handel, Kultur und Tourismus. Auch mit Lou Reed und den Rolling Stones war Havel befreundet. Musik machte er selbst indes nicht. Vielleicht eine weise Entscheidung eines Mannes des Geistes, der seine Grenzen kannte.

Und damit noch einmal nach Deutschland, wo sich einst Walter Scheel als Bundespräsident mit seiner Interpretation des Volkslieds "Hoch auf dem gelben Wagen" auf Platz fünf der Hitparade sang und damit dem nachkriegsdeutschen Polit-Pop noch eines der erträglicheren Werke zusteuerte.

Ansonsten ist die Geschichte des parlamentarischen Bardentums weitgehend eine Geschichte der Aneinanderreihung stilistischer Taktlosigkeiten. Eine, für die man nicht mal das von Günther Oettinger herausgegebene Liederbuch von 2009 heranziehen muss, das eingestampft werden musste, nachdem der baden-württembergischen CDU gewahr wurde, dass sich darin nicht nur Gassenhauer wie "Tür an Tür mit Alice" oder "Itsy Bitsy Teenie Weenie" befanden, sondern auch das sogenannte "Panzerlied" der Wehrmacht.

Es reicht, sich die Ergüsse der vergangenen Jahre vor Augen und Ohren zu führen: Schleswig-Holsteins CDU-Ministerpräsident Daniel Günther schmetterte auf der Kieler Woche in einem Bierzelt "Layla", Bayerns Landesvater Markus Söder (CSU) ließ im Abba-Museum in Stockholm zu "Dancing Queen" die Hüften kreisen, sang immerhin fehlerfrei, wenngleich zum Playback. Derweil lud Ex-Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) als "MBSounds" bemühte Plastikklangwelten bei Soundcloud hoch, verarbeitete so zum Beispiel mit einer gregorianisch angehauchten Grenzerfahrung des guten Geschmacks mit dem Titel "Gehen, um zu stehen" das Ampel-Aus.

Und der Kanzler, der neue? Es gibt ein altes Familienfoto der Merzens beim Musizieren, Ende der Neunziger, Papa Friedrich bläst in die Klarinette, und man bekommt die Analogie mit dem Rattenfänger von Hameln nicht aus dem Kopf, der aufspielt, damit sie ihm folgen und nicht den Rattenfängern von Rechtsaußen. Auf die Gefahr hin, dabei Misstöne zu produzieren, die das rechte Ohr nachhaltig ertauben lassen. Dann doch lieber ehrliche Straßenmusik.

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