China

Wählen ist offiziell erlaubt, aber nicht so einfach

In China herrscht Demokratie, zumindest auf dem Papier. Über die Schwierigkeiten, im Land der Mitte seine Stimme abzugeben.  

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Wahlen in China  | Foto: AFP ImageForum
Wahlen in China Foto: AFP ImageForum
"Weswegen ich anrufe, Mama: Hast du schon mal gewählt?" Am anderen Ende der Leitung herrscht einen Moment lang Stille. "Gewählt?" kommt es ungläubig zurück. "Ja, Volksvertreter gewählt", sagt Frau Zou. Ihre Mutter denkt eine Weile nach. Stimmt, da war mal was. In den Achtzigern, als sie noch bei einem Staatsbetrieb arbeitete, wurde die Belegschaft zum Wählen aufgefordert. "Was das sollte, wusste keiner, aber wir haben halt irgendwo ein Kreuz gemacht", erinnert sie sich und fragt ihre Tochter, warum sie das wissen wolle. "Weil ich auch wählen will!" antwortet Frau Zou.

Frau Zou ist Mitte dreißig und damit wie alle volljährigen Bürger der Volksrepublik China berechtigt, Volksvertreter zu wählen. So steht es in der Verfassung, Artikel 34. Nur die wenigsten Chinesen wissen davon, denn praktische Bedeutung hat das Gesetz nicht. Wahlen sind in China politische Schaustellerstücke, die dem Zweck dienen, der Herrschaft der kommunistischen Partei einen demokratischen Anstrich zu verleihen. Außer Beamten und anderen Staatsangestellten, die zum Wählen abgeordnet werden, gibt deshalb kaum einer seine Stimme ab.

Wahlen sind in China

politische Schaustellerstücke.

Aber was wäre, wenn die Chinesen eines Tages tatsächlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen würden? Etwa, um mit einer Flut ungültiger Wahlzettel gegen die Partei zu protestieren. Oder um selbst als unabhängige Kandidaten anzutreten, denn auch das erlaubt Artikel 34. Hätten normale Bürger überhaupt eine Chance, zur Wahl zugelassen zu werden? Frau Zou will es für uns herausfinden.

Das Experiment startet Mitte September, acht Wochen vor der Wahl der Pekinger Stadtteilparlamente am 8. November, bei der theoretisch alle 19 Millionen Hauptstadtbewohner stimmberechtigt sind. Frau Zou ist in vieler Hinsicht eine Durchschnittsbürgerin, ein typisches Mitglied von Chinas junger, mobiler Mittelschicht: Geboren im nordostchinesischen Shenyang hat sie Fremdsprachen studiert und dann in verschiedenen Provinzen unterschiedliche Jobs gemacht, bevor sie nach Peking kam.

"Zuerst habe ich meine Mutter und einige Freunde gefragt, ob sie schon einmal gewählt haben", erzählt sie. "Alle fanden das eine ziemlich abwegige Frage." Doch wer die Diskussionen in regierungskritischen Webforen verfolgt, die in China nur mit Software zur Umgehung der "Great Firewall" genannten Zensurmaschinerie zugänglich sind, weiß, dass sich in Intellektuellenkreisen viele mit dem Thema Wahlen beschäftigen. Bürgerrechtler versuchen immer wieder, sich als unabhängige Kandidaten aufstellen zu lassen.

Tatsächlich präsentieren die Staatsmedien seit einigen Jahren stolz Volksvertreter, die sich selbst zur Wahl gemeldet haben, doch bei genauerer Recherche entpuppen sie sich meist trotzdem als Systemträger. Wirklich unabhängige Kandidaten berichten dagegen regelmäßig, dass sie von den Sicherheitsbehörden unter Druck gesetzt wurden, ihre Bewerbung zurückzuziehen. Wer hartnäckig bleibt, muss damit rechnen, festgenommen oder unter Hausarrest gestellt zu werden.

Frau Zou ist keine Aktivistin. Sie will nur ihre Stimme abgeben und wendet sich an die Verwaltung des Pekinger Stadtteils Chaoyang, wo sie wohnt. Dort weiß niemand so recht, was man mit ihr anfangen soll. Eine Bürgerin, die sich zur Wahl anmelden will, kommt nicht häufig vor. Bei jeder Nummer, die sie anruft, bekommt sie eine andere Nummer, an die sie sich wenden soll. Häufig klingelt das Telefon ins Leere. Chinesische Beamte sind vormittags nur von neun bis elf erreichbar, bevor sie sich in eine lange Mittagspause verabschieden, um dann um fünf in den Feierabend zu gehen.

Nach einem guten Dutzend Telefonaten landet Frau Zou bei Direktor Yao von ihrem lokalen Einwohneramt, einem korrekten Beamten, der ihr auseinanderlegt, dass sie in der Hauptstadt nicht wahlberechtigt sei: Zou wohnt und arbeitet zwar in Peking, doch offiziell gemeldet ist sie in ihrer Heimatstadt Shenyang – ein bürokratisches Relikt aus der Maozeit, das einst sicherstellte, dass Menschen sich nur mit staatlicher Genehmigung im Land bewegen konnten. "Wenn Sie bei uns wählen wollten, bräuchten Sie eine Bescheinigung aus ihrer Heimatstadt, dass Sie dort nicht mehr wählen", erklärt Direktor Yao und glaubt wohl, die Anfrage hätte sich damit erledigt.

Doch Frau Zou klemmt sich wieder hinters Telefon und kämpft sich durch den Verwaltungsapparat von Shenyang. Von einer Wahlabmeldung hat dort noch niemand etwas gehört und keiner hat Lust, sich damit zu beschäftigen. Das Projekt wird zum Vollzeitjob. Frau Zou bettelt und schmeichelt sich durch dutzende Hotlines, bis sie Sekretär Wang von der Parteizelle des Wohnbezirks ihrer Eltern am Apparat hat. Inzwischen ist sie eine Expertin in chinesischem Wahlrecht und erklärt ihm, dass er für ihren Fall zuständig sei. "Warum wollen Sie denn wählen?", fragt der Sekretär. "Das brauchen Sie doch gar nicht." Aber wenn sie unbedingt wolle, müsse sie schon persönlich vorbeikommen.

Fünf Tage später nimmt Zou den Nachtzug nach Shenyang. Die 660 Kilometer weite Reise dauert neun Stunden und kostet rund 400 Yuan (45 Euro), einfache Fahrt. Im Gepäck hat sie eine Vorlage der Bescheinigung, die sie Direktor Yao unter Aufbietung all ihrer Überredungskünste abgerungen hat – er soll hinterher nicht sagen können, die Angaben seien unvollständig. In Shenyang verbringt sie zunächst einen halben Tag damit, bei verschiedenen Ämtern die Papiere zu besorgen, die sie braucht, um dann bei Sekretär Wang vorsprechen zu können.

"Sie sind tatsächlich nach Shenyang gekommen, nur um in Peking zu wählen?", fragt dieser fassungslos, als sie schließlich in seiner Tür steht, an der ein goldenes Schild mit der Aufschrift "Servicebüro für Partei und Politik" prangt. "Ich sitze seit zehn Jahren ich diesem Büro, aber so etwas Verrücktes ist mir noch nicht untergekommen." Aber auch er ist korrekt und macht sich an einem altmodischen Computer daran, nach den Pekinger Vorgaben die Bescheinigung zu tippen, druckt sie aus und setzt einen roten Stempel darunter. "Dabei brauchen Sie doch gar nicht zu wählen", wiederholt er immer wieder.

Auch Direktor Yao schüttelt verwundert den Kopf, als Frau Zou ihm ein paar Tage darauf ihre Wahlabmeldung überreicht. Die Sache ist ihm offenbar nicht geheuer. In den folgenden Tagen bekommt Frau Zou mit, dass hinter ihrem Rücken über sie telefoniert wird. Die Vermieterin wird befragt, man erkundigt sich nach ihrem Job und versucht ihre Anfrage in den Stadtteil ihrer Arbeitsstelle abzuschieben. Doch sie bleibt hartnäckig, und schließlich geben die Beamten ihren Widerstand auf. Knapp vier Wochen, nachdem sie den ersten Anruf getätigt hat, findet sie in ihrem Hauseingang einen rosafarbenen Aushang mit den Namen der registrierten Wähler. Ihrer ist auch dabei.

"Wer sind denn nun die Kandidaten?" fragt Yao den Direktor, als sie sich bei ihm ihren Wählerausweis abholt. "Das geht alles strikt nach dem Gesetz", erklärt der Beamte. Wer die regierungskritischen Webforen verfolgt, weiß, dass es in dem Bezirk mindestens eine Bewerberin gibt, die sich zur Wahl stellen wollte – und seit September nicht mehr erreichbar ist. Als eine Woche vor der Wahl die Kandidatenliste ausgehängt wird, fehlt ihr Name. Über ihre Konkurrenten ist nur der Beruf zu erfahren. Dazu gibt es einen Hinweis, ob sie Parteimitglieder sind. "Ausführliche Informationen sind im Einwohneramt einzusehen", steht unter der Liste.

"Sie schon wieder", sagt Direktor Yao, als Frau Zou wieder in seinem Büro steht. Er schiebt ihr eine Mappe mit vier Papieren hin. "Aber nur hier lesen", mahnt er. "Diese Informationen betreffen das Privatleben der Kandidaten." Viel geben die Vorstellungen nicht her. Wang Yuhua, Parteimitglied und Chefin einer lokalen Behörde, wird als "effektive Vertreterin einer transparenten und serviceorientierten Regierung" beworben.

"An Feiertagen wie dem Frühlings- oder Laternenfest besucht sie arme Menschen, und überprüft, ob ihre Familien dicke Decken und genügend Öl und Reis haben", heißt es über die 49-Jährige. "Sie ist eine Frau, der man vertrauen kann und die niemanden enttäuscht." Ähnlich informativ sind die Angaben über die Man Guorui, den Verwalter eines Wärmekraftwerks, einen lokalen Schulleiter und einen Vizedirektor einer Staatsbank.

Auch ein Wahlkampf ist nicht vorgesehen: "Nein, das wäre illegal", erklärt Direktor Yao, und zudem unfair gegenüber den anderen Kandidaten. Außerdem hätten die Wähler daran kein Interesse.

Das also ist Demokratie in China – und der Lohn für Frau Zous Kampf um eine Wahlberechtigung. Trotzdem will sie am 8. November in Direktor Yaos Einwohneramt gehen und ihren Wahlschein abgeben. Keiner der Kandidaten wird von ihr ein Kreuz bekommen.

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