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Amazon rollt den Lebensmittel-Handel auf

Hannes Koch
  • Do, 19. Oktober 2017
    Wirtschaft

     

Von Berlin-Tegel aus liefert der Internetriese Pizzen und Möhren.

Im Lager von Amazon Fresh  | Foto: dpa
Im Lager von Amazon Fresh Foto: dpa
BERLIN. Von Berlin-Tegel aus will der US-Konzern Amazon den Lebensmittelmarkt für Onlinebestellung und Nach-Hause-Lieferung aufrollen. Eckwerte: 100 000 verschiedene Produkte, 10,55 Euro Lohn pro Stunde.

Kalt ist es hier, minus 21 Grad. Die Mitarbeiterin von Amazon Fresh hat eine rote Nase. Sie trägt eine dicke Winterjacke und Handschuhe. Aus den Regalen sucht sie Tiefkühlpizzen, Frühlingsrollen und Fischstäbchen zusammen, um die Nach-Hause-Lieferung fertigzumachen, die ein Kunde im Internet bestellt hat. Nur maximal eine halbe Stunde pro Tag sollen die Beschäftigten in diesem Teil der Halle arbeiten, wegen der niedrigen Temperatur. An den Ritzen der Außentür sammelt sich Eis.

Nicht nur die Mitarbeiter, auch die einheimischen Konkurrenten des US-Konzerns müssen sich warm anziehen. Von diesem Logistikzentrum im Berliner Norden will die US-Firma den bundesdeutschen Lebensmittel-Handel aufrollen. Seit einigen Monaten werden Kunden in großen Teilen der Hauptstadt, einigen Orten in Brandenburg und in Hamburg beliefert. Tomaten, Möhren, Obst, Eier, Milch, Joghurt – um zwölf Uhr mittags bestellt, um 16 Uhr nach Hause geliefert – das ist die Ansage. Und Drohung.

Ausgangspunkt dieser Offensive ist das Lager im Berliner Stadtteil Tegel. Es steht auf einem Gelände, wo die Firma Borsig vor mehr als 100 Jahren modernste Technik fertigte: Dampflokomotiven. Neben den historischen Fabrikgebäuden aus roten Ziegeln und rostigen Stahlträgern ragen heute Hallen wie die von Amazon – mehrere Fußballfelder groß und fast so hoch wie Berliner Altbauwohnhäuser. An der einen Seite fahren die Container-Lkw der Lebensmittelproduzenten ran, an der anderen Seite werden die grünen Plastiktaschen mit den individuellen Bestellungen der Privathaushalte in kleine Transporter verladen.

Drinnen wandert man durch mehrere Temperaturzonen. Da gibt es beispielsweise den "tropischen Raum" mit 15 Grad Celsius, in dem Bananen, Melonen, sowie andere Früchte des Südens und Gemüse lagern. In einer weiteren Abteilung für weniger verderbliche Produkte herrschen 20 Grad.

Überall regiert die "chaotische Lagerhaltung". Die Mitarbeiter verstauen die Lebensmittel im Prinzip dort, wo in den langen Regalreihen gerade Platz ist. Die pistolenartigen Scanner, die die Beschäftigten in Händen halten, wissen sowieso alles: Bestellnummern der Kunden, georderte Artikel, Platz in den Regalen. Auspacken, ablegen, zusammenpacken – das meiste ist Handarbeit, damit Birnen, Joghurtbecher und Oregano-Pflänzchen keinen Schaden nehmen.

"Rund 100 000 verschiedene Produkte für Amazon Fresh lagern hier im Depot", sagt Stephan Eichenseher, Sprecher von Amazon Deutschland. Die Vielfalt und Auswahl, die die Kunden haben, ist damit größer als bei manchem Wettbewerber. Das liegt auch daran, dass Firmen wie Butter Lindner, Basic Bio oder Nordsee Lebensmittel in die Amazon-Kette einspeisen. Wer den neuen Service abonniert, kann gleichzeitig im übrigen Amazon-Kosmos shoppen. Da warten etwa 200 000 unterschiedliche Artikel vom Buch über herunterladbare Filme bis zur Motorsäge.

"Das insgesamt sehr große Angebot mag aus Sicht mancher Kunden für Amazon sprechen", sagt Bianca Casertano vom Handelsanalyse-Unternehmen Planet-Retail. Dem entgegen steht jedoch unter Umständen der Preis. Wer den Lieferservice nutzen will, muss Mitglied werden bei Amazon Prime, was 7,99 Euro monatlich kostet. Außerdem ist eine fixe Monatsgebühr von 9,99 Euro fällig.

Aber nicht nur die Amerikaner, auch die Platzhirsche investieren in den Onlinehandel mit Lebensmitteln. Bei Marktführer Rewe kann man sich mittlerweile in 75 deutschen Städten Weintrauben, Mozzarella oder frische Gurken nach Hause liefern lassen. Edeka hat unlängst den Bringmeister-Service von Kaisers Tengelmann übernommen. Aktiv sind auch die Deutsche Post mit ihrem Onlinemarkt Allyouneedfresh sowie Kaufland und Lidl.

In der Fünf-Grad-Zone der Halle, wo die Sendungen abschließend zusammengepackt werden, arbeitet ein junger syrischer Einwanderer. Vor zwei Jahren ist er vor dem Krieg aus Damaskus geflüchtet. Leute wie er verdienen hier minimal 10,55 Euro pro Stunde, was etwa auf 1400 brutto monatlich hinausläuft. Für ihn allein reiche das, sagt der Packer. Was aber, wenn seine Familie nachkommt? Dann wird es knapp.

Das ist ein Zwiespalt der Arbeit bei Amazon. Die Firma aus Seattle schafft neue Jobs – in Tegel sind es rund 200 – für Leute, die sonst unter anderem wegen mangelnder Qualifikation schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sprecher Eichenseher betont, dass manche Beschäftigte beispielsweise in der Qualitätskontrolle auch mehr verdienen. Hinzu kämen soziale Leistungen wie kostenlose Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung.

Trotzdem bleibt die Bezahlung in vielen Fällen armselig. Und das bei einem Konzern, der im Geld schwimmt. Vor ein paar Jahren übernahm Amazon-Chef Jeff Bezos mal eben die Zeitung Washington Post. Die Gewerkschaft Verdi verlangt, dass die Amazon-Leute mindestens zwölf Euro pro Stunde erhalten. Außerdem will sie einen Tarifvertrag abschließen.

Zu beidem sagt der Konzern schlicht "Nein". "Amazon und die Gewerkschaft passen nicht zusammen", sagt Stephan Eichenseher. "Tarifverträge spiegeln nicht unsere Firmenkultur der Flexibilität."

Auf der Straße zu den Kunden werden die Amazon-Taschen immerhin mit Tarifvertrag transportiert. Diesen Teil des Geschäfts erledigt die Deutsche Post DHL. Ob das Geschäftsmodell des US-Konzerns insgesamt erfolgreich ist, muss sich zeigen. Bisher weiß man es nicht. Denn Zahlen zu Kunden, Lieferungen und Umsatz in der Onlinebestellung und Belieferung mit frischen Lebensmitteln gibt die Firma nicht heraus. "Noch ist der Onlinehandel mit Lebensmitteln in Deutschland nicht rentabel", sagt Analystin Casertano, "aber die Unternehmen wollen die Entwicklung des Marktes nicht verpassen."

Ressort: Wirtschaft

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 19. Oktober 2017: PDF-Version herunterladen

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