Justizvollzug

Gefährliche 72 Stunden: Viele Suizide in Gefängnissen passieren zu Beginn der Haft

In zehn Jahren haben sich in baden-württembergischen Justizvollzugsanstalten 89 Gefangene das Leben genommen. Ein Blick hinter die Mauern – und auf Strategien, die Leben retten sollen.  

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Blick in die Justizvollzugsanstalt Ravensburg  | Foto: Felix Kästle (dpa)
Blick in die Justizvollzugsanstalt Ravensburg Foto: Felix Kästle (dpa) 

In einer Justizvollzugsanstalt müssen Gefangene mit dem Verlust ihrer Freiheit klarkommen. Angst vor körperlicher und sexueller Gewalt, der Kontrollverlust über das eigene Leben, aber auch die Haftbedingungen und Scham über die eigene Tat können Menschen an den Rand des emotional Erträglichen bringen. Manche Menschen sehen da keinen Ausweg – in Baden-Württemberg haben sich in den vergangenen zehn Jahren 89 Gefangene das Leben genommen. Nach Auskunft des Justizministeriums waren das ausschließlich Männer zwischen 17 und 79 Jahren.

Wann ist die Suizidgefahr am größten?

Die Untersuchungshaft ist häufig durch Umbrüche und Ungewissheit geprägt und stellt damit eine besonders belastende Haftphase dar. "Das Suizidrisiko ist hier deutlich höher als in Strafhaft. Dementsprechend sind auch die Suizidraten in Untersuchungshaft höher als in Strafhaft, wobei allgemein in einer frühen Phase der Haft die Wahrscheinlichkeit für Suizide höher ist", sagt ein Sprecher des Justizministeriums. Laut der Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention nahmen sich Untersuchungsgefangene am häufigsten innerhalb von drei Tagen nach ihrer Inhaftierung das Leben. Zudem könne zusätzlich nach etwa 60 Tagen Haft eine emotionale Erschöpfung vieler Gefangener beobachtet werden, die auch als Burnout bezeichnet werden könne. Die meisten Suizide werden in Einzelhaft zur Nachtzeit begangen.

Wie werden neue Inhaftierte auf ihr Risiko hin geprüft?

Um Suizidrisiken genau zu erfassen, wurde Ende 2022 landesweit ein kriminologisch begleitetes Screening-Verfahren eingeführt. In den Zugangsbereichen sollen suizidgefährdete Gefangene möglichst bereits in der Aufnahmephase erkannt werden. Dies geschieht mit Hilfe eines Erhebungsbogens.

Welche Rolle spielt das Gefängnispersonal?

Um Risikofaktoren frühzeitig zu erkennen, gibt es laut dem Justizministerium auch Fortbildungen für die Beschäftigten. In der Ausbildung der Anwärterinnen und Anwärter im baden-württembergischen Justizvollzug spiele das Thema Krise und Suizid eine wichtige Rolle. Vollzugsbedienstete haben eine Schutzpflicht und eine Fürsorgepflicht für die ihnen anvertrauten Gefangenen. Sie sollen aktiv Suizide verhindern.

Was macht man, wenn ein Risiko für Suizid festgestellt wird?

In einigen Justizvollzugsanstalten gibt es laut dem Justizministerium kameraüberwachte Hafträume. Dort werden suizidale Gefangene vor allem dann untergebracht, wenn eine gemeinschaftliche Unterbringung aus Sicherheits- oder sonstigen Gründen nicht möglich ist. Zum Schutz von gefährdeten Gefangenen kann nach einer Risikobeurteilung ein Gefangener in einem Gemeinschaftshaftraum mit und ohne ständige Anwesenheit eines Mitgefangenen untergebracht werden.

Wie oft kommt es zu Suizidversuchen?

Die Gefängnisse in Baden-Württemberg dokumentieren jeden Suizidversuch und jeden Todesfall, wie ein Sprecher des Justizministeriums sagt. "In den Jahren 2014 bis 2024 wurden insgesamt 332 Suizidversuche berichtet. Die höchste Anzahl in diesem Zeitraum wurde im Jahr 2017 mit 43 Suizidversuchen, die niedrigste im Jahr 2020 mit 17 Suizidversuchen verzeichnet", sagt der Behördensprecher.

In Rottweil wird derzeit an einer neuen JVA gebaut. Welche Neuerungen bringt das neue Gefängnis?

Bei dem Neubau ist es möglich, Konzepte zur baulichen oder psychosozialen Suizidprävention bereits in der Planungs- und Bauphase der Anstalt zu verankern. "Das Suizidpräventionskonzept sieht für die neue Justizvollzugsanstalt zwei Suizidpräventionsräume und zwei Doppelhafträume als sogenannte Listener-Zellen sowie weitere fünf Doppelhafträume als sogenannte Tandemzellen vor", sagt der Sprecher des Justizministeriums. In der Listener-Unterbringung werden Neuzugänge in Doppelhafträumen mit Gefangenen untergebracht, die über eine hohe soziale Kompetenz verfügen. Sie seien im Umgang mit krisenhaften Situationen geschult, damit sie andere Gefangene auf Augenhöhe unterstützen könnten. Tandemzellen seien vor allem für die Untersuchungshaft beziehungsweise die ersten Tage der Inhaftierung geeignet. Dabei handele es sich um Doppelhafträume mit einem bestimmten Farbkonzept und einer speziellen Einrichtung. Auch dort sollen Inhaftierte mit einem anderen besonders sozial kompetenten Gefangenen in einer Zelle sein. Zudem sind auch in Rottweil kameraüberwachte Hafträume geplant.

Hilfe der Telefonseelsorge: Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen oder einer Bekannten festgestellt? Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Beratung über das Internet unter www.telefonseelsorge.de

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