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Im Rückwärtsgang gegen die Wand

Fabian Kretschmer
  • Do, 05. Mai 2022
    Ausland

In Shanghai ist der Kampf des chinesischen Regimes gegen das Virus zur Propagandaschlacht auf Kosten der Bürger geworden / Das droht nun auch in Peking.

Eine Frau wird  in Peking auf das Coronavirus getestet.  | Foto: NOEL CELIS (AFP)
Eine Frau wird in Peking auf das Coronavirus getestet. Foto: NOEL CELIS (AFP)
Die junge Frau versteckt sich hinter der abgeschlossenen Wohnungstür, mit ihrem Smartphone möchte sie die drohende Katastrophe dokumentieren. "Die Seuchenschutzbehörde hatte versprochen, dass sie mein Testergebnis erst noch überprüfen wird, ehe sie etwas unternehmen", ruft sie hilflos in den Hausflur, wo die Polizisten bereits lautstark anrücken. Doch ohne lange zu fackeln tritt einer der Beamten in neun kraftvollen Stößen die Holztür ein. Wie ein Tiger auf der Jagd stürmt der Mann, in weißem Ganzkörperanzug gekleidet auf sein Opfer zu. Die Chinesin wird schließlich in eines der unzähligen Isolationslager geschleppt.

Seit über einem Monat hält der weltweit größte Lockdown nun an. Was in Shanghai passiert, legt auf eindrückliche Weise offen, wie weit die chinesische Staatsführung unter Xi Jinping bereit zu gehen ist, um seine politischen Ziele zu erreichen. Denn der Kampf gegen das Virus ist längst auch zur Propagandaschlacht geworden, bei der das Wohl der Bevölkerung immer öfter nur als Vorwand dient. Es geht vielmehr darum, zu beweisen, was die Regierung ihren Bürgern seit bereits zwei Jahren täglich eintrichtert: Dass China als einziges Land der Welt es schafft, sein Land virusfrei zu halten. "Null Covid" ist zum Symbol für die vermeintliche Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber dem Westen geworden. Und nun droht es sich ins Gegenteil zu verkehren: Die epidemiologische Nulltoleranzstrategie legt schonungslos die Schwächen der chinesischen Diktatur auf.

"Das ist ein Breitbandschaden für die Wirtschaft, die befindet sich zum Teil im freien Fall", sagt Jörg Wuttke, Präsident der europäischen Handelskammer in Peking. Seit den 80er-Jahren lebt der Manager bereits im Land, doch einen solch rasanten Umschwung wie in den letzten Monaten hat der Deutsche noch nicht erlebt: Von Sonnenschein-Optimismus hin zur Trauerstimmung in wenigen Wochen.

Doch der 1. April hat alles verändert. Damals sperrten die Behörden die knapp 26 Millionen Einwohner Shanghais in ihre Wohnungen ein. Der radikale Lockdown löste eine humanitäre Katastrophe aus, wie sie zuvor als undenkbar galt: In der wohlhabendsten Stadt des Landes bricht die Nahrungsmittelversorgung über Wochen zusammen, sodass selbst Multimillionäre und Banker auf den sozialen Medien verzweifelte Hilfeschreie absetzen. Die Ausgangssperren führen dazu, dass Asthmakranke, Diabetiker und Krebspatienten sterben, weil ihnen der Einlass in die Krankenhäuser verwehrt wird. Und hunderttausende Infizierte werden gegen ihren Willen in Massenlager abtransportiert, in denen hygienische Zustände wie in einem Slum herrschen.

Längst entlädt sich der Frust und die Verzweiflung der Bewohner immer offener – in Handgemengen mit den Nachbarschaftskomitees, in Supermarkt-Plünderungen und Schrei-Chören aus den Fenstern. Als die Anwohner einer Apartmentsiedlung mit Kochlöffeln und Töpfen auf ihre Situation aufmerksam machten, nannte die Polizei schon bald einen Südenbock: "Ausländische Kräfte stacheln die Menschen in Shanghai an, gegen die Pandemieprävention zu protestieren", heißt es in einer Stellungnahme.

Auch in der Fudan Universität, einer der Elitekaderschmieden des Landes, gingen die Studierenden auf die Barrikaden. "Das ist eine Universität und kein Konzentrationslager", haben sie an die Wände ihres Wohnheims geschmiert. Als sie sich zum Protest zusammentaten, schalteten die Behörden kurzerhand den Internetzugang auf dem Campus ab und entsandten die Bereitschaftspolizei.

Dabei haben die jungen Chinesen allen Grund zur Revolte. Die meisten Universitäten in Shanghai sind bereits seit über zwei Monaten abgesperrt. Studierende berichten, dass sie über Wochen ihre Sechsbettzimmer nicht verlassen dürften. Bis heute wird ihr Alltag bis ins kleinste Detail vom sogenannten Gesundheitscode bestimmt, den jeder auf seinem Handy mit sich führt: An der Universität Shanghai etwa dürfen die Doktoranden die kommunalen Waschräume nur alle zwei Tage für wenige Stunden aufsuchen.

In den Quarantänelagern der Stadt, in denen zehntausende Infizierte vor sich hinvegetieren, bleiben zum Säubern lediglich Waschbecken, Lappen und Plastikeimer. In riesigen Hangar-Hallen liegen die Leute auf Camping-Betten, bis sie irgendwann nach zwei negativen Covid-Tests in ihre Wohnungen entlassen – und dort weiter eingesperrt werden.

Damit sich eine ähnliche Tragödie in der Hauptstadt Peking nicht wiederholt, haben die Behörden keineswegs ihre "Null Covid"-Strategie überdacht. Im Gegenteil: Sie greifen viel früher mit harter Hand durch. Bereits nach insgesamt 200 Corona-Fällen im Stadtgebiet hat die Lokalregierung das Essen in Restaurants verboten, die Kinos geschlossen und eine strikte Testpflicht eingeführt. Wer keinen negativen PCR-Test innerhalb der letzten 48 Stunden vorweisen kann, wird nicht einmal in den Supermarkt gelassen. Um sich für einen drohenden Lockdown zu rüsten, haben praktisch sämtliche Hauptstadtbewohner ihre Vorratsspeicher aufgefüllt, manche sogar neue Tiefkühltruhen und Kühlschränke gekauft.

Derweil wurden in Peking dutzende U-Bahn-Stationen geschlossen. Von den Schließungen seien rund 40 Haltestellen – gut ein Zehntel des Pekinger U-Bahnnetzes – in der chinesischen Hauptstadt betroffen, teilte der U-Bahnbetreiber am Mittwoch im Chat-Dienst WeChat mit. Die Ein- und Ausgänge dieser Stationen würden geschlossen, für die Durchfahrt von U-Bahnen seien die U-Bahnhöfe aber nicht gesperrt. "Ich denke, die Stadt ist schon in einem halb geschlossenen Zustand", sagte ein Pekinger, dessen Wohnkomplex im Zuge des Kampfs gegen Corona abgeriegelt wurde und der nicht namentlich genannt werden will. "Es gibt keinen Zeitplan, wann unser Lockdown aufgehoben werden soll, und es werden noch mehr Orte abgeriegelt."

Warum Staatschef Xi Jinping so dogmatisch an seiner Nulltoleranzstrategie festhält, hat auch damit zu tun, dass diese zuvor funktioniert hat. Bis Jahresanfang haben die Lockdowns nur einen Bruchteil der Bevölkerung betroffen und blieben zeitlich begrenzt. Der absolute Großteil der 1,4 Milliarden Chinesen konnte bereits seit Frühjahr 2020 einen normalen Alltag führen, wie er in den meisten Teilen der Welt erst jetzt langsam wieder möglich ist. Doch spätestens mit der hochinfektiösen Omikron-Variante hat der Preis von "Null Covid" dessen Nutzen deutlich überstiegen: Laut Schätzungen der Pekinger Marktforschung "Gavekal Dragonomics" waren im April rund ein Viertel der Bevölkerung von den Ausgangssperren betroffen.

Selbst Zhong Nanshan, der als führender Gesundheitsexperte des Landes gilt, hat unlängst eingeräumt, dass die Volksrepublik China ihre "Null Covid"-Strategie langfristig nicht aufrechterhalten könne. Doch anstatt sich auf eine Debatte einzulassen wurde der Beitrag des 85-Jährigen schlicht vom Zensurapparat gelöscht.

Denn Chinas Kurs ist unweigerlich mit der Person Xi Jinpings verknüpft. Dieser wird stur an seiner Strategie festhalten. Im Blick hat er dabei vor allem den Parteikongress der Kommunistischen Partei im Herbst, während dem er seine dritte Amtszeit ausrufen wird – als erster Staatschef seit Mao Tsetung. Dabei soll nichts die Macht gefährden, weder kritische Stimmen noch ein Virus. Damit sein Plan aufgehen kann, braucht es einen immer totalitäreren Zensurstaat.

Doch diejenigen Chinesen, die mithilfe illegaler VPN-Software auch kritische Informationen aus dem Ausland konsumieren, haben Xi bereits den zynischen Spitznamen "Kaidaoche" verpasst: Ein alternder, von Persönlichkeitskult umnebelter Herrscher, der sein Land im Rückwärtsgang gegen die Wand fährt. Bei Mao stand am Ende das traumatische Chaos der Kulturrevolution. Xi Jinping hingegen läuft Gefahr, sein Land in die wirtschaftliche Rezession zu führen.

Ressort: Ausland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 05. Mai 2022: PDF-Version herunterladen

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