Fluchtgeschichte
Wie unterschiedlich zwei Ukrainerinnen auf ihre Heimat blicken

Ira und Alyona fliehen im selben Bus aus der Ukraine. Eine Freundschaft beginnt – bis die Frauen merken, wie unterschiedlich sie ihre Heimat sehen. Es tun sich Gräben zwischen ihnen auf.
Zum letzten Mal gesehen haben sie sich am 12. März. An diesem Tag überquert Ira, 40 Jahre, in ihrem stahlgrauen Daunenmantel die Grenze zwischen ihrer Heimatstadt Uschgorod am süd-westlichen Zipfel der Ukraine und der Ostslowakei. Zusammen mit zehn anderen warten sie und ihre zwei Söhne hier auf einen Kleinbus mit deutschem Kennzeichen, der sie nach Reutlingen in Baden-Württemberg bringen soll.
Nahe der Front: Mit dem Frühling kommt die Erleichterung zurück nach Charkiw
Beim Abschied küsst Mischa Ira und die Jungs. Als er sich entfernt, beobachtet sie von hinten, wie er sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht fährt. Neben Ira steht Alyona (47). Sie wird Zeugin von Mischas Tränen. "Alyona hat es gesehen", sagt Ira am nächsten Tag zu den anderen Frauen im Kleinbus in Erinnerung an diesen traurigen Moment.
Wurde das Dröhnen unerträglich, rollte sie die Yogamatte aus
Zwischen West und Ost, zwischen Uschgorod und der Stadt Schtschastja im Donbass, wo Alyona zuhause ist, liegen knapp 1500 Kilometer. "Schtschastja" bedeutet auf Deutsch "Glück". Seit 2014, seit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine, hört Alyona dort das gedämpfte Heulen der Sirenen, die Wucht der Explosionen, wenn "beide Seiten Zärtlichkeiten austauschten", wie sie sagt. Acht Jahre ging das so. Wurde das Dröhnen unerträglich, rollte sie die Yogamatte zum Üben aus.
Ira und Alyona lieben beide ihr Land. Aber für jede von ihnen bedeutet diese Liebe Unterschiedliches. In der Ukraine tobt Krieg. Einer, bei dem Menschen in Kellern sitzen und sterben. Aber auch ein Kulturkrieg, ein "Kampf um die Erinnerung und um die Zukunft der Vergangenheit", wie es Journalist Michael Martens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausdrückte. Das Politische wird, wie so oft, zum Persönlichen.
Zwei Monate liegen zwischen der Fahrt im Kleinbus und dem ...