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Schule und Vereine

Gewalt und Mobbing haben in Japan Tradition

Angela Köhler

Von

Mo, 04. März 2013

Ausland

40 Ohrfeigen in einem Training, Blessuren, blauen Flecken: Ein 17-Jähriger erhängt sich, weil er die Schikane seines Basketballtrainers nicht mehr erträgt. Nicht der einzige Fall, der derzeit Japans Schlagzeilen beherrscht.

Er sieht elendig aus, hat überall blaue Flecken und Blessuren. Der Trainer habe ihn wieder mehrfach geschlagen, erzählt der Kapitän der Schulbasketballmannschaft von Sakuranomiya seiner Mutter am Abend nur knapp. Später geben Sportkameraden zu Protokoll, dass der Coach dem 17-Jährigen an jenem Dezembertag 2012 bis zu 40 Ohrfeigen verpasst hatte, viele davon grob ins Gesicht. Am nächsten Morgen erhängt sich der Oberschüler in seinem Zimmer.  Er könne die ständigen körperlichen Misshandlungen und Verletzungen nicht mehr ertragen, schreibt er in seinem Abschiedsbrief.

Japans Öffentlichkeit zeigt sich geschockt. Überrascht kann sie eigentlich nicht sein. Die aggressiven Praktiken des 47-Jährigen waren bekannt. Schon 2011 ergeht an die zuständige Erziehungsbehörde des Industriezentrums Osaka eine anonyme Anzeige wegen Körperverletzung. Die Sakuranomiya-Schule streitet die Anschuldigungen erst vehement ab, niemand wisse von Übergriffen, Gewalttätigkeiten und Ausfälligkeiten der Sportlehrer. Aber die Schüler packen aus. Mehr als 20 Jungs des Basketballteams klagen, dass sie ebenfalls misshandelt werden. Keiner habe sich getraut aufzumucken, aus Angst, aus dem Team oder aus der Schule zu fliegen.

Der Trainer hat inzwischen zugegeben, seine Schüler regelmäßig verprügelt zu haben. Körperliche Züchtigung sei wichtig, um die Jugendlichen zu höheren Leistungen anzuspornen, sie härter und stärker zu machen, erklärt er – von sich und seinen Methoden überzeugt – den Medien. Noch immer rechtfertigt er seine Übergriffe, obwohl Prügelstrafen auch im fernöstlichen Inselstaat seit 1947 gesetzlich verboten sind.

Die Selbsttötung des jungen Basketballspielers und die Aussagen seiner Mannschaftskameraden haben offenbar auch andere Gremien gezwungen, Aufklärungsarbeit zu leisten. Seit Anfang Februar erschüttert ein Missbrauchsskandal den bis dato hoch angesehenen japanischen Judoverband. 15 seiner Topathletinnen hatten sich im Dezember schriftlich darüber beschwert, beim Training vor den Olympischen Spielen in London mit Bambusschwertern geschlagen, schikaniert und physisch missbraucht worden zu sein. Der Cheftrainer der Damennationalmannschaft, Exweltmeister Ryuji Sonoda, musste zurücktreten.

Die Sportlerinnen aber wollen mehr – fundamentale Veränderungen im gesamten Verband. "In der Judoföderation wurden unsere Stimmen nicht nur nicht gehört, sie wurden unterdrückt", zitieren Japans Medien die noch anonym bleibenden Eliteathletinnen. Erst als eine Serie von Berichten über Gewalt und Missbrauch erschien, sei überhaupt reagiert worden.  

Der Fall schlägt in der Öffentlichkeit so hohe Wellen, dass Japans Olympisches Komitee jetzt umfassende Befragungen und Untersuchungen in allen Disziplinen angekündigte. Die Enthüllungen der Judoka sind für das JOK nämlich ein PR-Desaster – ein Albtraum für die Bewerbung Tokios um die Sommerspiele 2020. Man verspricht aufzuräumen und will den Verdacht loswerden, unlautere und rigide Methoden von Trainern, Lehrern und Betreuern im Umgang mit den ihnen anvertrauten jungen Menschen zu tolerieren.
Die Peiniger rieten ihrem Opfer sich das Leben zu nehmen
Gewalt und ihre Verleugnung oder Verniedlichung haben Tradition in Japan und werden als gesellschaftliches Problem durchaus anerkannt. So organisieren die Behörden nach besonders schweren Skandalen immer wieder Kampagnen und wollen sensibilisieren. Aber geändert hat sich bisher kaum etwas im Alltag. Eltern und Schüler, Nachbarn und Experten müssen nach wie vor mitansehen, wie Bildungsstätten und Sportorganisationen ihre Schutzbefohlenen im Stich lassen, ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.

Der Fall eines Schülers im westjapanischen Otsu, der dieser Tage ebenfalls die Schlagzeilen dominiert, ist exemplarisch. Der 13-Jährige kann die Erniedrigungen nicht mehr aushalten. Am 11. Oktober 2011 stürzt sich der Oberschüler vom 14. Stock seines Wohnhauses in den Tod. Er ist von Mitschülern brutal gequält worden. Die Schulleitung weist lange jeden Vorwurf zurück. Der Junge, räumt sie ein, sei zwar gemobbt worden – aber einen direkten Zusammenhang zu seinem Suizid gebe es nicht. Die Direktion wirft den verzweifelten Eltern sogar vor, das häusliche Umfeld habe nicht gestimmt.

Die empörte Familie geht an die Öffentlichkeit, erstattet Anzeige gegen die Schulleitung. Aber die Polizei verweigert die Kooperation, man könne die Vorwürfe nicht bestätigen. Erst als die Eltern im Februar 2012 eine Schmerzensgeldklage über 795 000 Euro gegen die Stadtregierung von Otsu und drei verdächtige Mitschüler einreichen, kommt Bewegung in den Fall und die Medien interessieren sich für die Akte und die Umstände.

Es stellt sich heraus, dass die Zeugenaussagen der Schüler sehr viel konkreter waren, als es die Schulleitung zugegeben hat. 15 Schüler sagten aus, dass der 13-Jährige systematisch gedemütigt wurde. Drei Mitschüler schlugen ihn im Klassenzimmer und auf den Fluren, drangsalierten und schikanierten ihn, zerrissen seine Hausaufgaben und Hefte. Immer wieder "rieten" die Peiniger dem Opfer, sich das Leben zu nehmen. Der Klassenlehrer und mehrere Kollegen sahen, was passierte, wurden auch von Schülern über die Vorfälle informiert. Ihre Reaktion: Das seien eben nur harmlose Jungen-Streiche.

Die Hinweise und das Medieninteresse führen dazu, dass die unter Druck geratene Polizei mehr als neun Monate nach dem Selbstmord mit Ermittlungen beginnt. Sie konfisziert Aufzeichnungen der Lehrer und Beweismittel gegen die drei verdächtigten Haupttäter. Schließlich setzen die Behörden eine unabhängige Untersuchungskommission ein, die 300 Schüler und alle Lehrer genauer befragt. Auch das Bildungsministerium in Tokio kümmert sich um diesen Fall.
Die Lehrer wussten es, aber taten nichts dagegen
Die nun ans Tageslicht gekommene Wahrheit macht die ganze Nation betroffen. Der Junge hätte "schreckliche mentale und physische Schmerzen erleiden müssen", heißt es in dem dieser Tage veröffentlichten Bericht. Die Lehrer hätten genau gewusst, dass ihr Schüler über einen langen Zeitraum gepeinigt wurde. Die Experten werfen der Schulleitung nicht nur vor, den Selbstmord nicht verhindert zu haben. Sie sei zumindest mitverantwortlich für diesen Tod. Ein vernichtendes Urteil für die Pädagogen, dessen Konsequenzen noch nicht absehbar sind. "Die Schule meines Sohnes", sagt der Vater, "hat ihn einfach sterben lassen." Den verantwortlichen Mitschülern drohen nun Jugendstrafen zwischen sechs Monaten und sieben Jahren.

Der Fall von Otsu bewegt die Öffentlichkeit nicht nur wegen der groben Vertuschungsversuche des Lehrpersonals. Schulmobbing ist ein ernsthaftes Problem, das in Japan "ijime" genannt wird. Immer wieder halten schwächere Mitschüler den brutalen Druck und die Einschüchterungen nicht mehr aus und nehmen sich das Leben. Die Zahl der gemeldeten Mobbing-Fälle ist zwischen 2006 und 2011 zwar statistisch von über 101 000 auf 75 000 gesunken. Aber auch das ist wohl ein schlechtes Zeichen, denn es deutet auf zunehmendes Vertuschen hin. Experten glauben, dass die Dunkelziffer tatsächlich viel höher liegt. 

Ressort: Ausland

  • Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der BZ vom Mo, 04. März 2013:
  • Zeitungsartikel im Zeitungslayout: PDF-Version herunterladen

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