Account/Login

Beim Torjubel sind alle vereint

  • bsi

  • Do, 19. Juni 2008
    Zisch

     

Männer und Frauen sehen die Welt und den Fußball verschieden, aber in den wichtigen Momenten der EM passt’s dann wieder.

LAHR. Fußball ist mal eine reine Männersache gewesen. Solche Zeiten haben die Reporter der Jugendredaktion nicht mehr erlebt. Barbara Singler hat sich unter die Zuschauer des Spiels Deutschland−Österreich gemischt – und neben dem Geschehen auf dem Rasen auch das männliche und weibliche Publikum beobachtet.

Übermüdet vom langen Wochenende fahre ich zum Schlachthof, um das Spiel der deutschen Mannschaft anzuschauen. Noch 70 Minuten bis zum Anpfiff – doch so richtige Fußballstimmung kommt nicht in mir auf. Vor mir fährt ein kleines, rotes Auto; rechts und links davon flattern die schwarz-rot-goldenen Fahnen im Fahrtwind. "Hoffentlich wird das Spiel spannend, sonst schlaf ich noch ein", denke ich beim vierten Gähnen in den vergangenen zehn Minuten. Selbst der Enthusiasmus und die Vorfreude meiner Freundin scheinen nicht auf mich überzuschwappen.

Noch 40 Minuten bis zum Anpfiff – umgeben von Trikots, Fahnen, geschminkten Gesichtern und Hupgeräuschen habe ich mir einen der letzten Plätze ergattert. Genau vor mir sitzen zwei Mädchen, beide die Farben schwarz, rot und gold im Gesicht. Überhaupt scheinen die Mädels sich lieber in Schale zu werfen – auch wenn’s um Fußball geht. Hier und da höre ich schon die ersten Vermutungen über das Ergebnis: "4:1" brüllt jemand aus der hinteren Hälfte des Raums.

"Erst mal abwarten", denk ich still vor mich hin, während die drei Jungs schräg gegenüber (übrigens ohne Trikot und Farbe im Gesicht) die ersten Fußballlieder anstimmen. Nur noch drei Minuten bis zum Anpfiff – so langsam verstummen auch die letzten lauten Gespräche. Im Flüsterton wird jedoch weiter spekuliert: Wann fällt das erste Tor? Wer ist der Torschütze? Was wird man heute Abend von der deutschen elf zu sehen bekommen?

Wo ist der Ball? Und sehen die Jungs gut aus oder nicht?

Dann ist es endlich 20:45 Uhr: Anpfiff in Wien. Alles ist ruhig. Doch spätestens in der vierten Minute ist die Stille durchbrochen. Ein lauter Aufschrei, wilde Gesten in der Luft und die ersten Diskussionen brechen aus. Hinter mir raschelt jemand mit der Chipstüte.

Meine Freundin hat ihre Brille vergessen und fragt nun ständig, wo der Ball gerade ist. Den Ball kann ich zwar gerade noch sehen, aber ob die Fußballer gut aussehen oder nicht, kann ich nicht mehr beurteilen. Dennoch komme ich so langsam in Fußballstimmung. Das Mädchen vor mir beginnt wild zu gestikulieren und wedelt mit ihrer Deutschlandfahne, als wäre sie ein Dirigent. Der Typ an der Theke hingegen scheint total apathisch: Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrt er auf die große Leinwand. Sein Kumpel kaut nervös auf seinem Kaugummi (ebenfalls mit offenem Mund) und zieht alle zwei Sekunden an seiner Zigarette.

Zum Glück werden die spannenden Szenen und nervenaufreibenden Momente des Spiels immer wiederholt, denn nicht nur die Leinwand, sonder auch die Menschen um mich herum ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich muss schmunzeln, als ein Mädchen mit rotem T-Shirt, schwarzer Weste und goldenem Gürtel in der zwölften Minute empört mit ihrem Finger auf den Bildschirm zeigt. French Maniküre urteilt über Foul im Fußball. Über die gelbe Karte für den Österreicher freut sie sich umso mehr.

Zwei Reihen weiter sitzen vier Jungs: breitbeinig, jeder eine Flasche Bier in der Hand, die Augen starr gerade aus. Nur ab und an fällt ein kurzer Kommentar. Schade, dass ich trotzt Multitaskingfähigkeit nicht alle Gespräche mitbekomme. Andere Kommentare würde ich hingegen auch mal gern überhören. "Super Schuss", hallt es in meinem Ohr nach, und die Frage drängt sich mir auf, ob es sich dabei wohl um Fachwissen oder Großkotzigkeit handelt?

Toooor! Da erwacht der apathische Typ am Tresen zu neuem Leben

19. Minute – Lehmann schnappt sich nicht nur gekonnt den Ball, sondern auch gleich noch das Bein seines Gegenspielers. Applaus aus allen Ecken. Nur drei Minuten später der Schuss von Lukas Podolski: "Was für ein Schuss", flüstert die Frau hinter mir beeindruckt. Auch sie hat ein kleines Fähnchen in der Hand, doch scheint vor lauter Aufregung zu vergessen, damit zu wedeln. Noch zehn Minuten bis zur Halbzeit: viel zu viele rot-weiße Spieler vor dem deutschen Tor. Immer mehr Hände vor den erschrockenen Mündern. Und selbst ich entdecke mich dabei, wie mein Daumen sich in meiner Faust verkrampft. Doch dann: Erleichterung.

Nur noch wenige Minuten bis zur Pause: tosender Applaus für Jogi Löw und Angela Merkel. Anstatt auf der Trainerbank sitzt er nun im roten Kinosessel neben der Bundeskanzlerin. Piff zur Halbzeit: alles stürmt los, die Mädchen aufs Klo, die Jungs an die Theke.

Es geht weiter. Noch immer ist kein Tor gefallen, doch meine Müdigkeit ist wie weggeblasen. 49. Minute: Endlich die Erlösung. Die beiden Mädchen vor mir springen auf. Meine Freundin lässt vor Freude den gläsernen Aschenbecher fallen, und selbst der apathische Typ an der Bar reist seine Hände nach oben. Begeistert wird gesungen und gejubelt. Merkel scheint dabei genau so für gute Stimmung zu sorgen wie das Tor durch Michael Ballack. Die Kommentare des Moderators sind bei den Jubel nur noch schwer zu verstehen, doch manchmal reicht sehen völlig aus.

Ressort: Zisch

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 19. Juni 2008: PDF-Version herunterladen

Artikel verlinken

Wenn Sie auf diesen Artikel von badische-zeitung.de verlinken möchten, können Sie einfach und kostenlos folgenden HTML-Code in Ihre Internetseite einbinden:

© 2024 Badische Zeitung. Keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben.
Bitte beachten Sie auch folgende Nutzungshinweise, die Datenschutzerklärung und das Impressum.

Kommentare


Weitere Artikel