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"Das ist ja doch gar kein so vulgäres Stück"

  • Manuela Heuberger & Sarah-Lisa Witter

  • Mo, 29. Januar 2001
    Zisch

     

Aufreizende Gefängnisbräute und charmante Rechtsanwälte treffen auf unterschiedliche Zuschauerreaktionen - ein Besuch beim Musical "Chicago" in Basel.

"Hallo, ihr Säcke!" grüßt Velma Kelly herzhaft-herzlich auf der Bühne. Der im Samtsessel versunkene grauhaarige Zuschauer schreckt auf, hat er da gerade richtig gehört? Verdutzt blickt er auf die kesse rothaarige Tänzerin, die sich außerordentlich verführerisch an der Feuerwehrleiter entlang räkelt. Ein aufreizender Augenaufschlag, verlockend wird der Kopf zurück geschwungen und der Rock etwas höher gezogen: Velma ist voll in Aktion. Sie will sich rächen.

Velmas Seele schreit geradezu nach Rache. Denn kurz bevor die Knastlady den süßen Duft der Welt wieder hätte schnuppern können, hat Konkurrentin Roxy ihr kurzerhand die Schau gestohlen. Die hübsche Roxy gibt nämlich vor, schwanger zu sein und bekommt so im Handumdrehen den ersten und natürlich den besten Gerichtstermin.

Im Zuschauerraum ist das schon etwas betagtere Ehepaar Schneider zunächst sichtlich nicht sehr angetan von dem, was ihnen da auf der Bühne geboten wird. Schließlich sind sie gekommen, um hier im Basler Musicaltheater Musik und Tanz in "Chicago" zu genießen - aber doch keine Peepshow! Wenn sie nackte Haut sehen wollten, müssten sie ganz woanders hingehen, aber mit Sicherheit nicht in das renommierte Musicaltheater. Und doch geht es auf der Bühne ziemlich heiß weiter. Immer wieder tauchen irgendwelche zügellosen Gefängnisbräute auf und singen leidenschaftlich von Intrigen, Schikanen und Mord an ihren Liebhabern - und nicht zuletzt der umschwärmte Staranwalt Billy Flinn sorgt für zusätzliche Schärfe im Bühnengeschehen.

Den 15-jährigen Benjamin interessiert der Gesang allerdings recht wenig. Kaugummi kauend hängt er lässig im Sessel und in seinem kessen Blick glaubt man sowas wie "öde Musik, aber im merhin scharfe Kurven" lesen zu können. Das Stück nimmt seinen Lauf und Roxy wird vom Gefängnisarzt definitiv für schwanger erklärt. Ihr Ehemann Amos, der nun auch die frohe Botschaft von Roxys Schwangerschaft erhält, rückt jetzt ins Rampenlicht. Selig lächelnd verkündet er: "Ich bin der Vater, schaut her ich bin der Papi!" Aber leider wird der gutmütige und tollpatschige Amos, gespielt von Ilja Richter, trotzdem eher übersehen und muss das Publikum mit reichlich Witz und Charme gewinnen. Kein Wunder fühlt sich da die 35-jährige Zuschauerin Irene Braun an früher erinnert, an damals, als Ilja Richter Ende der 70er Jahre mit der Musiksendung "Disko" seine Fans begeisterte - und auch sein Gesang findet hier in "Chicago" reichlich Anklang.

Das Publikum applaudiert begeistert und Christine Schneider raunt ihrem Mann zu: "Das ist ja doch gar kein so ein vulgäres Stück und der Herr Richter hat wenigstens was Ordentliches an!" Während also Amos die Zuschauer nach Kräften auf Trab hält, hat sich im Knast einiges getan. Velma versucht Staranwalt Billy Flynn mit eindeutigen Angeboten umzustimmen, um den nächsten Verhandlungstermin ergattern. Aber vergebens: Roxy ist und bleibt die Nummer eins bei Glamour-Anwalt Billy Flynn. Dessen Slogan - "Glück kann ich nicht schenken aber jeder verdient eine zweite Chance" - zieht bei den Knastgirls und sie zahlen 50 000 Dollar für den Rechtsbeistand ihres "Prince Charming". Der 13-jährige Mark ist beeindruckt: zwar mag er Pop oder Jazz nicht - HipHop ist sein Gebiet - aber seiner Schwester zu Liebe ist er ins Musical mitgegangen. Und er bereut es gar nicht: "Der Anwalt ist ja echt ein dufter Typ, wie der die Frauen um den Finger wickelt, - sollte ich mir mal 'ne Scheibe von abschneiden."

"Dass die Figuren hier so leichtlebig dargestellt sind, hätte ich nicht gedacht." (eine Zuschauerin)

Roxy ist mittlerweile bereit, für ihren Anwalt alles zu tun - vorausgesetzt sie bekommt genügend Publicity um ein Star zu werden. Bei ihrer Gerichtsverhandlung, will sie den Durchbruch schaffen. Doch alles kommt anders: die Reporter interessieren sich nicht mehr für ihre Geschichte, denn es hat sich ein viel dramatischerer Fall ereignet. Mit kritischem Blick verfolgt eine Dame in schicker Bluse das Treiben auf der Bühne: "Dass die Figuren hier so leichtlebig dargestellt sind, hätte ich ja nicht gedacht." Roxy wird freigesprochen und ist dennoch nicht glücklich.

Zum ersten Mal ist Roxy zwar auf der Sonnenseite des Lebens, muss jedoch gleich im Schatten einer andern stehen. Deshalb macht sie einfach mit ihrer Gefängnispartnerin Velma gemeinsame Sache. Und zusammen geben sie zum Abschluss des Stücks singend ihre Lebensphilosophie zum Besten: "Das Paradies ist immer heut". Die 25-jährige Chicago-Besucherin Daniela kann sich diesem Motto nur anschließen: "Das Paradies wird selbst gemacht. Man sollte immer das tun, was einem Spaß macht."

Ressort: Zisch

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mo, 29. Januar 2001: PDF-Version herunterladen

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