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Leben mit Marfan

  • Christoph Sprich & 18 Jahre

  • Do, 06. November 2003
    Zisch

     

Eine genetische Besonderheit.

Eine komplette JuZ-Seite über eine genetische Konstellation, die ein Syndrom auslöst, das "Marfan" genannt wird: Irgendwie waren wir von der JuZ alle skeptisch - und doch letzten Endes überzeugt davon, dass wir diese Seite machen wollten. Warum? Weil vor mittlerweile drei Jahren Michael Meierin, Mitarbeiter der Jugendredaktion, gestorben ist. Er hatte das Marfan-Syndrom. Einige Kardiologen machten uns inzwischen darauf aufmerksam, dass es wichtig wäre, für mehr Aufklärung in Sachen Marfan zu sorgen. Dazu wollen wir beitragen.

"Krank? Nein, krank bin ich wirklich nicht!" Thomas Wyser lacht. Er ist 27, recht groß, trägt eine dicke Brille und redet mit unüberhörbarem Schweizer Akzent. Seine "Krankheit" ist das Marfan-Syndrom (MFS). Thomas, viele andere Betroffene und auch behandelnde Ärzte sind im Clara-Schumann-Gymnasium in Lahr, einem alt-ehrwürdigen Internatsbau, zusammengekommen, um sich bei einer "Marfan"-Tagung auszutauschen.

Überall in den schmalen, hohen Gängen der Schule stehen kleine Grüppchen. Man plaudert, trinkt eine Tasse Kaffee oder nutzt die Pause, um sich die liebevoll gestalteten Schautafeln anzuschauen. Nein, krank scheint hier wirklich niemand zu sein. Und doch: Wer Marfan hat, lebt nicht wie jeder andere. Regelmäßige Kontrollbesuche beim Arzt und eine gewisse Rücksichtnahme gegenüber dem eigenen Körper gehören zum Alltag. Wenn das MFS unentdeckt bleibt, oder wenn Kontrollen ausbleiben, kann man an den Folgen sterben.

Bereits 1896 beschrieb der französische Kinderarzt Antoni Marfan einige Merkmale, die einen Marfan-Patienten auszeichnen. Heute weiß man, das es sich bei MFS um eine genetisch bedingte Erkrankung des Bindegewebes handelt. Durch einen genetischen Fehler erhält der Stoff Fibrillin eine andere Struktur. Fibrillin ist der Grundstoff für das Bindegewebe und somit überall in unserem Körper. Das Bindegewebe verleiht Gestalt und Struktur, bildet Blutgefäße und Muskeln. Selbst die Knochen werden dank des Bindegewebes am richtigen Fleck gehalten. So vielfältig wie Bindegewebe im Körper vorhanden ist, so vielfältig können auch die Auswirkungen von MFS sein. Sie reichen von Fehlstellungen der Wirbelsäule bis zur Erblindung wegen einer Netzhautablösung. Am schwerwiegendsten ist jedoch die Gefahr einer Rissbildung in der Hauptschlagader (Aorta).

Zur Kontrolle einer möglichen Weitung der Aorta sollte alle sechs Monate eine Kontrolluntersuchung gemacht werden. "Es ist wichtig, dass dich die Eltern zwingen, zur Kontrolle zu gehen", meint die 21-jährige Sina, "sonst verdrängt man das ganz schnell." Warum? Die Untersuchung kann auch schlechte Nachrichten bringen - zum Beispiel, dass eine Operation nötig wird.

Das Marfan-Syndrom - eine tickende "Zeitbombe" im eigenen Körper? "Klar, macht man sich manchmal Gedanken darüber", beschreibt das Mathis, 18 Jahre, aus der Schweiz, "aber eine Zeitbombe ist es sicherlich nicht." Mathis muss zusätzlich zu den kardiologischen Untersuchungen alle drei Monate seine Augen kontrollieren lassen. MFS verrät sich bei ihm äußerlich nur durch seine leicht gebeugte Haltung und seine starke Brille: "Aber ich lebe wie jeder andere auch." Darauf legt er Wert. Zurzeit ist er solo, aber, klar, hatte er schon eine Freundin.

Mathis macht eine Informatiklehre und hat einen ziemlich pragmatischen Zukunftswunsch: "Ich möchte halt gut verdienen." In seiner Freizeit spielt er Schach und auch ab und zu Fußball, - obwohl das für Marfan-Betroffene eigentlich streng verboten ist. Denn Fußball ist eine Kontaktsportart. Rempeleien, Stürze und Körpertreffer gehören zum Fußball nun mal dazu. Ein zu harter Körperkontakt kann bei einer Person mit MFS zur Folge haben, dass die Aorta verletzt wird - das bedeutet höchste Lebensgefahr. Aus demselben Grund sollten die Sportarten nicht zu anstrengend für Herz und Kreislauf sein. Das heißt aber nicht, dass ein Betroffener nicht trotzdem ein paar Körbe werfen, entspannt ein paar leichte Hanteln stemmen oder ein paar Kilometer auf dem Rad zurücklegen kann - ganz im Gegenteil. Für viele Betroffene spielt der Sport eine genauso große Rolle wie bei "gesunden" Sportliebhabern. Simona, 23, (siehe Porträt) bringt es auf den Punkt: "Ich spiele supergern Fußball. Am liebsten würde ich natürlich viel mehr machen, aber ich darf nicht." Wie bei jedem Menschen gilt: Sport ist nur in angemessener Dosis gesund. Aber wer MFS hat, hat von Natur aus eine niedrigere Belastbarkeitsgrenze und sollte sie auch nicht bis zum Maximum ausreizen.

"Schnupfen ist eine Krankheit - Marfan nicht." Thomas Wyser, 27 Jahre

Das heißt allerdings auch, dass man, wie Sina es formuliert, "im Sportunterricht immer nur hinterherlaufen kann". Trotzdem wurden Sinas Leistungen, genauso bewertet, wie die ihrer Mitschüler. Aber auch das andere Extrem kommt vor: Lehrer, die von der Krankheit erfahren und dann die pädagogischen Samthandschuhe auspacken und zu vorsichtig bewerten. So oder so: manch einer der Betroffenen sah und sieht sich in eine ungeliebte Sonderrolle gezwängt. Klar, dass einem so etwas nicht gerade beim Erwachsenwerden hilft. Viele Menschen mit MFS sind überdurchschnittlich groß und schlank, was bei unwissenden Ärzten und Mitmenschen schon mal zur Diagnose "Magersucht" führen kann. Und wenn man, wie Sina, in der Grundschule bereits 1,84 Meter groß war, passt man nicht nur nicht auf die üblichen Schulbänke, sondern ist auch das beliebte Ziel von Hänseleien der Mitschüler.

Auch Thomas, der freundlich lächelnde Schweizer, hat das am eigenen Leib erfahren. Klar, dass sein Selbstbewusstsein darunter gelitten hat. "Deshalb", meint er, "neige ich wohl auch dazu, mich selbst zu unterschätzen." Das, glaubt Thomas, sei wohl auch der Grund dafür, dass er bis jetzt noch keine Freundin hat. Viel schwerer wiegt für ihn allerdings, dass seine Eltern mit der Diagnose "Marfan" bis heute nicht zurechtkommen. Sie können ihn und das Syndrom einfach nicht akzeptieren: "Es wird totgeschwiegen."

Dafür gibt es keinen Grund. Auch der groß gewachsene amerikanische Präsident Abraham Lincoln hatte wohl das Marfan-Syndrom. Trotzdem liegt der Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung, aber auch bei Ärzten nahe null. Das ist gefährlich, wenn man bedenkt, dass MFS tödlich sein kann, wenn es unentdeckt bleibt. Wird es jedoch diagnostiziert und der Betroffene stellt sich darauf ein, kann man trotz aller Schwierigkeiten recht gut damit leben. Thomas jedenfalls blickt optimistisch in die Zukunft - und er unterscheidet deutlich: "Schnupfen ist eine Krankheit, Marfan nicht."


Mehr Infos: http://www.marfan.de

Ressort: Zisch

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 06. November 2003: PDF-Version herunterladen

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