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"Man durfte nicht sagen, was man dachte"

  • Claire Zimmermann, Klasse 9e, Markgräfler-Gymnasium (Müllheim)

  • Fr, 20. Dezember 2019
    Schülertexte

     

ZISCHUP-INTERVIEW mit Christiane Patzschke, die mit ihrer Familie aus der DDR in den Westen ausreisen durfte, kurz bevor im November 1989 die Mauer fiel.

Junge Leute sitzen auf einem Restteil ..., von der DDR-Führung geöffnet wurde.   | Foto: Maja Hitij
Junge Leute sitzen auf einem Restteil der Berliner Mauer, die vor 30 Jahren, am 9. November 1989, von der DDR-Führung geöffnet wurde. Foto: Maja Hitij

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, befand sich die aus der ehemaligen DDR stammende Familie meiner Mutter bereits drei Monate lang in Westdeutschland. Meine Großeltern waren zum Zeitpunkt der Ausreise 36 Jahre alt, meine Tanten zehn und neun und meine Mutter sieben Jahre alt. Aufgrund des 30. Jahrestages der Wende befragte ich, Claire Zimmermann, Zischup-Reporterin aus der Klasse 9e des Markgräfler-Gymnasiums in Müllheim, meine Großmutter Christiane Patzschke zu ihren Erlebnissen und Gefühlen bei ihrer Ausreise von Halle/Saale nach Göttingen.

Zischup: Wie sah euer Leben 1989 im Osten aus?
Patzschke: 1989 hatten wir den Ausreiseantrag schon seit drei Jahren laufen, der Entschluss, in den Westen zu gehen, war längst gefallen. Ich habe heimlich Kisten gepackt, weil die Kinder es noch nicht merken sollten. Die standen alle in einem Zimmer, das renovierungsbedürftig war. Zu diesem hatten die Kinder keinen Zutritt, damit sie die Vorbereitungen nicht mitbekamen und nicht jahrelang die Belastung mit der Ausreise hatten. Ich bin aus dem Schuldienst schon vorher ausgeschieden, bevor ich den Ausreiseantrag gestellt habe, weil ich wusste, dass ich nicht im Schuldienst bleiben durfte. Also war ich zu Hause und habe versucht, die ganze Wirtschaft einzupacken und mich um die Familie zu kümmern. Das Leben war sicherlich nicht schlecht, weil dein Großvater ganz gut verdient hat. Er war Kürschner. Aber wir durften nicht reisen. Das war eine große Sache, dass wir uns nicht die ganze Welt anschauen konnten, sondern nur begrenzt auf das kleine Stück Deutschland und die paar befreundeten Staaten drum herum waren. Meine Mutter war bereits im Westen, mein Vater ist in der Zeit auch irgendwann ausgereist, und mein Bruder war seit langem in Westdeutschland. Wir wollten schon ganz, ganz lange im Westen leben. Bevor unsere drei Kinder geboren wurden, hatten wir überlegt, wie wir das machen können, dass wir in den Westen kommen.

Zischup: Seid ihr im Westen viel gereist?
Patzschke: Wir sind im Westen nicht genug gereist, weil wir das Geld dazu nicht hatten. Dein Großvater musste erst einmal sehen, dass er Arbeit bekommt. Ich hatte keine Arbeit. Sein Beruf, die Kürschnerei, ging zu Ende. Pelzmäntel wurden nicht mehr getragen. Einen Hausmeisterdienst hat er ausgeübt. Er hat eine Ausbildung zum Altenpfleger gemacht. Das war eine Zeit, in der wir nicht viel Geld hatten. Wir waren später mal in Holland, in der Schweiz, im Westen von Deutschland, aber in Anbindung an Verwandtschaft, dass wir günstig übernachten konnten. Später waren wir auch mal in Rom.

Zischup: Welche Dinge haben dich am Leben im Osten am meisten gestört?
Patzschke: Dass man nicht sagen durfte, was man dachte, und man ganz vielen Sachen unterworfen war, gerade als Lehrerin. Als Lehrer musste man an Parteiversammlungen oder Schulungen teilnehmen, obwohl man nicht in der Partei war. Man musste diese Staatstreue immer heucheln, weil man sonst seinen Beruf nicht hätte ausüben können. Als DDR-Bürger durfte man nichts dagegen sagen, obwohl man anderer Meinung war. Der Staat hat uns völlig bevormundet und ausgetrickst, weil sie uns belogen haben. Sie selber sind gereist, hatten lauter Westsachen. Die Führung hat gemacht, was sie wollte, und hat dem Volk alles verboten, hat uns bespitzelt und überwacht bis ins letzte Detail. Mich störte vor allem, nicht reisen zu dürfen, auch dass es so wenig Sachen zu kaufen gab. Du musstest bis zu acht Jahre auf ein Auto warten, obwohl du das Geld hattest. Und du bekamst nur eines, wenn du Glück hattest. Beim Gemüseladen gab es nur Weißkraut und Rotkraut, und als ich das erste Mal im Westen war und den Gemüseladen gesehen habe, bekam ich einen Wutanfall und bin in Tränen ausgebrochen, da es alles gab.

Zischup: Wie seid ihr in den Westen gekommen?
Patzschke: Wir sind ausgereist. Dein Großvater hatte von seinen Großtanten ein Einfamilienhaus im Westen geerbt. Das war schlussendlich der letzte Anstoß, da wir ab diesem Zeitpunkt wussten, wo wir hinkönnen bei einem Neuanfang. Daraufhin haben wir einen Ausreiseantrag gestellt, das hat drei Jahre gedauert. Wir mussten immer wieder zur Polizei, das ist in diesem Fall die Stasi gewesen. Wir mussten dort erzählen, warum wir wegwollten. Von dem Haus haben wir gar nichts gesagt. Das Thema hieß Familienzusammenführung. Das konnte man angeben. Wir haben gesagt, wir wollten zu meiner Mutter, die bereits im Westen war. Sagen, dass man etwas gegen den Staat hatte, durfte man nicht. Dein Großvater und ich wurden auch immer einzeln vorgeladen. Auch manchmal zur gleichen Zeit.

Zischup: Welche Gefahren gab es außerdem, wenn man einen Ausreiseantrag gestellt hat?
Patzschke: Man hatte gute Chancen, dass man eingesperrt wurde, weil man ja die Republik verlassen wollte. Zwar auf legale Weise, aber man wusste nie, woran man war. Die hätten immer eine falsche Formulierung finden können. Sie haben uns ja sowieso beschattet. Die Stasi hat uns abgehört, Briefe geöffnet. Die hätten uns auch einen Strick aus unseren Westkontakten drehen können. Die Gefahr, grundlos eingesperrt zu werden, gab es immer. Wir haben extra die Kinder vor Befragungen in Sicherheit gebracht. Falls wir uns nicht mehr gemeldet hätten, war abgesprochen, dass Freunde sie behalten.

Zischup: Wie war das dann für dich?
Patzschke: Wir haben große Angst um unsere drei kleinen Kinder gehabt. Es war kein Vergnügen. Vor allem auch das Warten. Du wusstest nie, wann es losgeht, wann du die Papiere bekommst, dass du ausreisen darfst aus diesem Staat.

Zischup: Warum habt ihr es trotzdem gemacht?
Patzschke: Weil wir weg wollten. Weil wir eine Perspektive hatten, dadurch dass wir das Haus geerbt hatten. Wir haben das alles riskiert, um endlich aus diesem Staat rauszukommen, in dem wir nicht sein wollten.

Zischup: Wie sah die Ausreise aus? Wie ist es zur Bewilligung gekommen?
Patzschke: Du bekamst Papiere, unter anderem einen Laufzettel, auf dem 20 verschiedene Behörden und Sparkassen sowie Geschäfte und die LPG aufgelistet waren. Innerhalb von so und so vielen Tagen musstest du alles abstempeln lassen, dass du bei diesen Leuten keine Schulden hattest. In kurzer Zeit mussten wir unser Haus und die Autos verkauft haben. Wir wurden aus der Staatsbürgerschaft entlassen. Alle. Wir waren also staatenlos. Nur mit Papieren, dass wir ehemalige DDR-Bürger waren, sind wir ausgereist. Den Zug bekamen wir zugeteilt. Der fuhr abends um halb elf. Dein Großvater hatte noch das restliche Ostgeld, etwa 200 Mark, und hat dann den Zugschaffner bestochen, dass er uns ein Zugabteil gibt. Damit wir nicht im Gang stehen mussten mit unseren zwei Koffern und drei kleinen Kindern. Wir waren alle mit den Nerven ein bisschen am Ende. Beim ersten Halt in Eisenach wusste meine Freundin Manuela, dass unser Zug da hält. Sie stand da mit Sekt auf dem Bahnhof und hat uns verabschiedet. Das ist mir unvergessen geblieben, da wir nicht wussten, ob wir uns jemals wiedersehen. Dann sind wir in der Morgendämmerung über die innerdeutsche Grenze gefahren. Eine von den drei Mädchen ist wach geworden. Ihr Spruch war, als ich ihr sagte, wir seien nun drüben, im Westen, die Bäume und alles sähe genauso aus wie auf der anderen Seite der Grenze. Das einzige, was anders war, war, dass vor den Häusern, an denen wir vorbeifuhren, ganz viele Westautos auf den Straßen standen. Sowas hatten wir noch nie gesehen.

Zischup: Was war das Schwierigste bei der Ausreise?
Patzschke: Vorher diese Sachen alle zu erledigen, weil man so wenig Zeit hatte. Weil man nie wusste, ob sie es sich nicht noch anders überlegen. Man hatte Angst, etwas Falsches mitzunehmen oder einzupacken. Angst davor, mir Schmuck umzuhängen, hatte ich auch, da sie an der Grenze hätten sagen können, dass das nicht in Ordnung sei und sie einen dann womöglich zurückgeschickt oder nicht rüber gelassen hätten. Alles andere war längst in den drei Jahren zuvor passiert: sich zu verabschieden und Sachen wegzugeben. Die letzten Wochen waren das Schlimmste.

Zischup: Durftet ihr ausschließlich zwei Koffer mitnehmen?
Patzschke: Ja, und wir mussten über jede Sache, die wir im Koffer hatten, in dreifacher Ausfertigung eine Dokumentation abgeben. Als ich die Koffer gepackt habe, saß eine Freundin an der Schreibmaschine und hat jedes Stück, was ich eingepackt habe, aufgeschrieben. Zum Glück war Sommer, denn wir durften nicht viel mitnehmen.

Zischup: Und eure Möbel?
Patzschke: Freunde haben unseren Nachlass mit dem Möbelwagen geschickt. Der ist dann viel später gekommen, zufällig am 9. November 1989. Wir sind in unser neues Haus an diesem Tag gezogen. An dem Tag, als die Grenze richtig aufging. Deswegen, weil der Möbelwagen kam, sind wir nicht an die nahegelegene Grenze gefahren.

Zischup: Warum habt ihr das Haus und die Autos in Halle verkauft?
Patzschke: Du durftest in der DDR keine Grundstücke besitzen, deswegen haben wir das Haus an Freunde schon vorher verkauft. Wir haben nicht gedacht, dass die Grenze ein paar Wochen später aufgeht und man wieder zurückfahren kann, um Sachen zu holen. Wir sind dort weg und haben gedacht, wir kommen nie wieder. Große Abschiedsfeste haben wir gefeiert. Wir haben uns für immer verabschiedet. Niemand hat gewusst, dass die Grenze aufgeht. Niemand.

Zischup: Gibt es heutzutage etwas, was du an der Ausreise bereust?
Patzschke: Dass es zeitlich so blöd war, dass wir das Haus und alles verkauft haben. Das Haus ist heute viel Geld wert und wir haben es bloß für 20 000 Ostmark verkauft. Das ist irgendwie dumm gelaufen. Ansonsten bereue ich nichts.

Zischup: Was war anders im Westen als in der DDR?
Patzschke: Es kann sich heutzutage keiner mehr vorstellen, wie das für einen DDR-Bürger war. Man ist in so einer Mangelwirtschaft groß geworden. Zwei Stunden lang hat man angestanden, weil es irgendwo Melonen gab. Hinter mir musste sich noch ein Kind anstellen und meine Mutter, die gerade zu Besuch da war, noch vor mir. Wir durften nicht miteinander reden, damit niemand merkt, dass wir zueinander gehören. Jeder bekam dann eine Melone. Das gab es aber nicht jeden Tag, sondern vielleicht einmal im Monat. Da hatte man Glück, wenn man da gerade dazukam, wenn es die Melonen gab. Im Westen gab es alles. Im Osten gab es zwei Bananen pro Familie. Wir waren fünf zu Hause. Die Oma vor mir hat zwei Bananen bekommen und ich auch nur zwei. Was habe ich mich geärgert und rumgestritten. Und das war im Westen nachher alles weg. Das Sorgen für die Familie, das war nachher völlig anders. Gerade, was Obst und Gemüse angeht. Endlich konnten wir reisen. Unsere Verwandten, auch die in Westdeutschland, konnten wir besuchen. Anders war auch, dass ich nicht gleich arbeiten konnte. Als ausgebildete Lehrerin der DDR durfte ich nicht im Schuldienst arbeiten. Mein Studium wurde im Westen nicht anerkannt.

Zischup: Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr von der Grenzeröffnung gehört habt?
Patzschke: Wir haben geheult, weil das, was wir uns so viele Jahre erhofft und erträumt hatten, wahr geworden ist. Uns hätte es egal sein können, weil wir im Westen angekommen waren. Trotzdem haben wir geweint. Wenn du das im Fernsehen siehst, wie alle das kaum fassen können, bewegt dich das sehr. Mir kommen auch jetzt noch sofort die Tränen.

Ressort: Schülertexte

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 20. Dezember 2019: PDF-Version herunterladen

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