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Epilepsie und Autismus

Mein Leben mit Bjarne

  • Jonna Schweizer, Klasse 8c, St.-Ursula-Gymnasium (Freiburg)

  • Fr, 28. April 2023, 12:17 Uhr
    Schülertexte

Jonna Schweizers Bruder ist Autist und hat Epilepsie. Sie erzählt über das schöne und verrückte Leben mit ihm.

EEG-Hauben messen Hirnströme, zum Beispiel bei Epilepsie.  | Foto: Lisa Böttinger
EEG-Hauben messen Hirnströme, zum Beispiel bei Epilepsie. Foto: Lisa Böttinger
Als ich vor fast 15 Jahren auf die Welt gekommen bin, war mir nicht klar, dass es so anstrengend und gleichzeitig schön sein kann, mit einem vier Jahre älteren Bruder, der an einer chronischen Krankheit erkrankt ist, zu leben. Bjarne, mein Bruder, hat, seit er zwei Jahre alt ist, eine komplizierte Epilepsie und frühkindlichen Autismus.

Zum einen sind da die Anfälle. Das heißt, er verliert jegliche Körperkontrolle und fällt einfach um. Sein Körper fängt an zu zucken und seine Augen verdrehen sich so weit nach hinten, dass man nur noch das Weiße sehen kann. Dabei gibt er oft Geräusche von sich, die man am ehesten als röchelnd beschreiben kann. Ein Anfall kann unterschiedlich lang und stark sein. Manchmal ist er sofort wieder ansprechbar, manchmal muss man ihm ein Beruhigungsmittel geben, damit der Anfall aufhört. Deshalb muss er auch jeden Tag Medikamente nehmen und einen Schutzhelm tragen. Es ist nämlich auch schon vorgekommen, dass er einfach nach vorne übergekippt und im Essen gelandet ist. In solchen Momenten bleibt einem kurz das Herz stehen. Hinterher ist man froh, dass Essen eine super Polsterung abgibt.

Die Ärzte wissen selbst nach 16 Jahren nicht genau, was die wirkliche Ursache ist, und ich kann nicht sagen, wie viel Zeit wir alle in Krankenhäusern und Epilepsiezentren verbracht haben. Aber so haben mein jüngerer Bruder und ich auch gelernt, unsere Berührungsängste abzulegen, da wir schon viele unterschiedliche Menschen kennengelernt haben, die dich zum Beispiel einfach so umarmen. So sind Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Einschränkung zu etwas geworden, wovor wir keine Angst mehr haben.

Bjarne ist auch schon oft weggelaufen. Ich glaube, er versucht so, ein bisschen vor seiner Krankheit und allem, was dazu gehört zu fliehen. Oder er hat ein rotes Motorrad entdeckt und möchte es sich anschauen. Oder er hat eine Metzgerei gesehen und wollte ein Würstchen haben. Das ist alles schon vorgekommen, auch dass man ihn mit Polizeihubschraubern und allem Drum und Dran gesucht hat.
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Obwohl er vier Jahre älter ist, war ich immer die große Schwester. Mein kleiner Bruder und ich haben früh gelernt, Verantwortung für Bjarne zu übernehmen und auf ihn aufzupassen. Zum Beispiel macht er sich an einer Straße keine Gedanken, ob er gesehen wird oder nicht. Er kann keine Gefahren einschätzen und hatte schon mehr als einen Schutzengel. Die Krankheit hat sich so durch mein ganzes Leben gezogen, auch wenn es nicht darum ging, war und ist sie immer präsent. So musste man manchmal seine eigenen Bedürfnisse etwas zurückstellen, da die Erkrankung so viel Raum einnahm.

Seit ich denken kann, möchte Bjarne zur Feuerwehr. Oder in einem Hähnchengrill arbeiten. Bjarne liebt Hähnchen. Er wird das leider niemals können, aber es ist schön zu sehen, wie er an seinem Traum festhält und so gerne davon erzählt. Ich bewundere sein unglaublich gutes Gedächtnis. Er kann sich an Lieder erinnern, die er im Kindergarten gesungen hat. Er besitzt auch das Talent, aus einem riesigen Haufen mit Puzzleteilen das passende Teil herauszusuchen. Wenn er fertig ist mit Puzzeln, was er eigentlich nie ist, verteilt er die fertigen Puzzle auf dem Boden, dem Küchentisch oder dem Sofa. Manchmal ist es beruhigend, wenn seine größte Sorge ist, ob der Wasserfleck auf seiner Hose wieder weggeht. Er macht sich nie große Sorgen und ist bereits glücklich, wenn er "Pettersson und Findus" anhört und einen Berliner isst.

Einmal wollten Bjarne und ich zwei Berliner kaufen gehen. Doch der Bäcker hatte nur noch einen Berliner. Das wollte er in dem Moment nicht verstehen und hat angefangen herumzuschreien. Hinterher kann ich darüber lachen, doch in diesem Moment wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Es gibt noch eine lustige Geschichte: Während eines Familienessens hat Bjarne eine Mücke im Türrahmen plattgemacht und gefragt: "Wohin mit dem Vogel?" Wir lachen heute noch darüber.

Es gibt natürlich noch mehr zu erzählen. Mittlerweile wohnt Bjarne auch nicht mehr zu Hause, denn er ist vor ein paar Monaten ausgezogen und wohnt jetzt in einem Wohnheim mit anderen Jugendlichen und Erwachsenen, die ähnlich sind wie er. Dort kümmert man sich gut um ihn. Es ist anstrengend, aber ich vermisse ihn und ich freue mich jedes Mal auf ihn, wenn wir uns wiedersehen. Und natürlich auch auf seine erste Frage: "Was gab es denn zum Mittagessen"?

Ressort: Schülertexte

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 28. April 2023: PDF-Version herunterladen

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