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Mittendrin und doch nicht dabei

  • Do, 15. August 2002
    Zisch

     

Im Medienwahn des Alltags bleiben Beziehungen auf der Strecke: Per Handy und E-Mail tauschen wir uns über alles und nichts aus.

Heute schon deine E-Mails gecheckt? Wievielmal hat dein Handy schon geklingelt? Was kommt heut' Abend im Fernsehen? Bunt, schnell und manchmal auch ziemlich nervig ist der Alltag in der schönen neuen Medienwelt. Gar nicht so einfach, vor lauter Nachrichten die wirklich wichtigen Dinge nicht aus den Augen zu verlieren.

Oben spricht Bundeskanzler Schröder über die Entschädigung von Hochwasser-Opfern. "Aufatmen in Passau" verkündet darunter ein rotes Band, auf dem die neuesten Nachrichten vorbeiflimmern. Und am Bildschirmrand: die aktuellen Aktienkurse. Der Berliner Nachrichtensender n-tv sendet im "Split-Screen". Wirtschaftsmeldungen, Werbung, Börsendaten und Präsident Bush auf dem Wirtschaftsforum in Texas - alles auf einen Blick. Das hält doch kein Mensch aus.

Erdrückt zwischen Nachrichten, Meldungen und Pressekonferenzen einfach nur raus auf die Straße und die Sonne genießen. Vielleicht ein wenig einkaufen. Doch was früher allenfalls charakteristisch für den Times Square in New York war, findet man nun schon außerhalb des Big Apple und mitten in Europa: Leuchtreklamen und überdimensionale Leinwände mit Newstickern. Selbst in der klimatisierten Boutique flimmern neben Prêt-à-porter-Schauen in Paris auch die Programme von CNN und N24 über den Schirm. Beim anschließenden Milch-Shake im Café gehört die Tageszeitung zum guten Ton. Spätestens seit es Nachmittagsausgaben gibt und der Berliner Tagesspiegel schon am Abend vorher verkauft wird, gilt der Spruch: Nichts ist so alt wie die Zeitung von heute morgen.

Horst Opaschowski ist Zukunftsforscher. Seit einem Vierteljahrhundert beobachtet und studiert er die Lebensgewohnheiten der Deutschen. Die Befürchtung von Kritikern der Mediengesellschaft, dass Buchleser aussterben, weist Opaschowski zurück. "Medienkonsum kostet immer mehr Zeit. Wenn neue Medien hinzukommen, werden nicht alte Medien aufgegeben." Doch der Tag hat auch in Zukunft nicht mehr als 24 Stunden. "In gleicher Zeit muss also mehr erledigt, mehr gelesen, mehr Radio gehört und mehr ferngesehen werden", stellt der Hamburger Forscher fest.

Roman Herzog sprach 1996 von Signalen medialer Umweltverschmutzung, doch eines bleibt ohne Zweifel: Dem Leben in der schnellen Medienwelt kann sich kaum einer entziehen. Es regiert das Stakkato der Agenturen. Moderne Technik hilft uns, Schritt zu halten. Und zwingt uns gleichzeitig, am Puls der Zeit zu bleiben. Mit allen Vor- und Nachteilen. Blitzschnell lassen sich über E-Mails und SMS-Nachrichten auf der ganzen Welt Mitteilungen verbreiten. Das kann die Party heute Abend bei Freunden sein oder weltpolitische Entwicklungen ja sogar mathematische Formeln. Oder wer hätte noch in den achtziger Jahren gedacht, dass es schon bald für jeden Abiturienten während der Prüfung möglich sein würde, über drahtlose Kommunikationsmittel nach außen zu verfügen?

Nachrichten erleben einen Boom, wenn sie eine breite Masse erreichen können. Nie standen so viele Kommunikationsmittel wie heute zur Verfügung. Doch genau hier kann eine Gefahr lauern. Die Annahmen des amerikanischen Computer-Wissenschaftlers Joseph Weizenbaum können sicher heute als übertrieben widerlegt werden: Er hielt das Internet für eine bloße Möglichkeit, Daten umher zuschicken, ohne dass sich die Menschen dabei persönlich kennenlernen. Zahllose Freunde, die per E-Mail miteinander kommunizieren und die steigende Zahl von Flirtdomains im Internet beweisen das Gegenteil. Was Weizenbaum noch "Pseudokommunikation ohne menschliche Begegnung" nennt, ist heute oftmals ein erster Schritt zur realen Begegnung. Doch die unterschiedlichen Formen der Kommunikationsmittel verändern auch unser Miteinander. Kannten die Eltern der Generation @ nur Briefe oder das Telefon als Mittel zum Flirten, gibt es heute neben diesen Möglichkeiten noch Internet, Handy und Fax. Beziehungen zwischen Menschen werden so banalisiert. Man tauscht sich über alles und nichts aus. Ob es die Talkshow ist, die gerade eben läuft oder das Telefonat mit Susi: nahezu in Echtzeit sind wir mittendrin. Aber eben nicht dabei. Fernsehen, E-Mail, Handy - das ist die Split-Screen eines jeden Einzelnen. Genauso wie Verona Feldbusch und Nadja El Farag die Nation immer wieder nerven, sind unsere Mitmenschen dank neuer Kommunikationswege stets präsent.

"Viele Menschen fühlen sich von der Überfülle des Medienangebots bedroht." Horst Opaschowski

Rücken Menschen wirklich näher zusammen, indem sie über unzählige Nachrichten miteinander kommunizieren? Oder kommt nicht eine gewisse Langeweile gepaart mit Desinteresse durch die mediale Überflutung zu Stande, wenn man sich über die Banalitäten des Lebens immer und sofort austauscht? Der Forscher Opaschowski beschreibt die Mediaphobie, die Angst vor der Medienflut: "Technisch ist alles möglich. Doch psychologisch stößt die Medienrevolution an ihre Grenzen. Viele Menschen fühlen sich von der Überfülle des Medienangebots bedroht und wissen nicht, wie sie sich gegen diese Lawine wehren können. Auch die Befürchtungen über die multimedialen Auswirkungen auf die mitmenschliche Kommunikation nehmen zu."

Die Entwicklung wird unaufhaltsam weitergehen. Das zu ändern, ist weder möglich noch unbedingt sinnvoll. Essentiell ist jedenfalls die persönliche Neugierde eines jeden Einzelnen. Dass man sich beim Überangebot an Neuigkeiten noch immer für das wirklich Wichtige interessiert. Dies gilt für Split-Screens im Fernsehen gleichermaßen wie für unsere täglichen und ganz privaten Neuigkeiten zu Hause.

Ressort: Zisch

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 15. August 2002: PDF-Version herunterladen

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