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Durch das Techno-Gewitter in den Pop-Himmel

Bernhard Amelung

Von

Di, 17. Juli 2018

Rock & Pop

Das Sea-You-Festival in Freiburg steht für musikalische Vielfalt.

Richie Hawtin hat seinen Stakkato-Sound unter Kontrolle.  | Foto: Dakov
Richie Hawtin hat seinen Stakkato-Sound unter Kontrolle. Foto: Dakov
Es ist das größte Open-Air-Festival für elektronische Clubmusik im Südwesten Deutschlands: Über 100 Künstlerinnen und Künstler sind am Wochenende auf der Sea You am Tunisee bei Freiburg aufgetreten, darunter die Techno-Legende Jeff Mills und aufstrebende Stars wie Giorgia Angiuli. Die Vielfalt des Programms zeigt, dass diese Musik in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Im Techno-Gewitter
Peitschende Rhythmuspattern aus ostinat stampfenden Bässen und wild rüttelnden Snare-Drums jagen durch das Dunkel des Techno-Zelts. Die nicht-tonalen Gebilde muss man sinnlich erfahren. Das heißt: Die Augen schließen und in die Mitte der Tanzfläche gehen. Dorthin, wo der Sound eine körperlich wahrnehmbare Energie entfaltet. Hart, härter, Drumcode. Der Mann, der diese Formel begründet hat, heißt Adam Beyer, 42, ein Hüne mit breiten Schultern und knabenhaftem Lachen. Seit 1996 führt der schwedische Produzent und Discjockey ein Plattenlabel unter diesem Namen. Der Sound, der darauf erscheint, treibt er die Minimalisierung des Techno voran. Nach ihm übernimmt Mike Bierbach alias Rødhåd das Mischpult. Vielleicht ist sein Techno-Sound sogar noch härter, muss die Formel umgeschrieben werden. Doch diese Frage beschäftigt auf dem Sea-You-Festival niemanden.

Im Pop-Himmel
Aus dem Untergrund in die Radio-Charts: Dass elektronische Musik in der breiten Masse angekommen ist, zeigen beim Sea-You-Festival Frans Zimmer, der sich als Künstler Alle Farben nennt, und Lost Frequencies, bürgerlich Felix De Laet. Beide treten auf der Seebühne auf. Beide arbeiten im Studio mit Popsängern zusammen. Zimmer mit Kelvin Jones, De Laet sogar mit dem Engländer James Blunt. Ihr Song "Melody" hält sich seit Anfang Mai in den Top Ten der Charts in Belgien, Österreich und der Schweiz. Melodienreich sind auch ihre Sets, die sie zur untergehenden Sonne spielen. Filmsequenzen und kurze Textbotschaften, die auf die Songs abgestimmt sind, laufen über eine LED-Video-Wand im Hintergrund. Sie geben vor, was das Publikum fühlen muss: Liebt einander, liebe dich selbst. Smartphone raus, Selfie mit Sonnenuntergang, Hashtag Herz, und ab auf die Fotoplattform Instagram. Das individuelle Erlebnis wird dort tausendfach reproduziert.

Unter Legenden
Jeff Mills steht im Techno-Zelt. Seine athletisch-asketische Figur verschwindet schemenhaft im Nebel, der durch Trockeneis erzeugt wird. Seine Finger rasen über die Tasten seines analogen Drumcomputers, ein Roland TR-909. Beeindruckend, wie entfesselt die Bass- und Schlagzeugfiguren klingen, obschon er am Mischpult jede Frequenz kontrolliert. Sein Sound klingt wie ein Code, eine Botschaft aus dem All oder an das All. Bei Mills, geboren und aufgewachsen in Detroit, ist beides möglich. Die Zukunft der Menschheit werde im Weltall stattfinden, betont er regelmäßig in Interviews. Die Dekoration im Techno-Zelt könnte kaum passender sein. Dutzende Parabolschirme hängen über dem 55-Jährigen. Rote und blaue LED-Lichter leuchten auf. Ein lichtgewordenes Spiegelbild seines Stils. Auf der Hauptbühne lässt Richie Hawtin alte Plastikman-Zeiten auflegen. So hieß sein Alias, unter dem er "Spastik", eines der bekanntesten Techno-Stücke überhaupt, produziert hat. Das erschien 1993. Diese Zeit lässt er zum Abschluss des Sea-You-Festivals aufleben. Er spielt mit perkussiven Stakkato-Figuren, die Schockcharakter haben. Manchmal kann Techno auch weh tun.

Unter Überfliegerinnen
Sanft verhallt Giorgia Angiulis Stimme in der Abendsonne. Zu ihr gesellen sich warme Keyboard-Akkorde und das Wimmern eines Theremin. Ein Musikinstrument, bei dem Klanghöhe und Lautstärke über elektrische Spannung gesteuert werden. Die Italienerin Angiuli gehört mit der Belgierin Charlotte de Witte zu den Überfliegerinnen des Jahres 2018. Große Festivals wie das Zürich Open Air buchen sie inzwischen. Für Nina Kraviz ist das längst Alltag. Die Russin steht beispielhaft für den Aufstieg einer Frau als Discjockey in dieser Szene, die auch 2018 immer noch eine Männerdomäne ist. Weniger als 15 Prozent der Künstler eines Festivalprogramms sind weiblich. Das hat eine Untersuchung des Künstlerinnen-Netzwerks female:pressure aus dem Jahr 2017 ergeben. Auch im Programm des Sea-You-Festivals sind Frauen in der Minderheit. Umso schöner, dass Angiuli, de Witte und Kraviz dort zur besten Festivalzeit und auf den großen Bühnen auftreten. Für Letztgenannte ist der Besuch im Breisgau quasi ein Heimspiel. Drei mal war sie schon zu Gast am Tunisee. Das Publikum feiert ihr DJ-Set frenetisch.

Ressort: Rock & Pop

  • Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der BZ vom Di, 17. Juli 2018:
  • Zeitungsartikel im Zeitungslayout: PDF-Version herunterladen

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