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Weitere Hilfe wird dringend benötigt

  • Leon Thielen, Klasse 8b, Kreisgymnasium (Neuenburg)

  • Fr, 28. April 2023
    Schülertexte

Olena ist mir ihrer Tochter und ihrer Enkelin aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Sie leben seit Ende Januar im Marienheim in Bad Bellingen-Bamlach. Ein Besuch.

Blumen liegen vor einem Gebäude in der...wurde von russischen Raketen zerstört.  | Foto: SERGEI SUPINSKY (AFP)
Blumen liegen vor einem Gebäude in der Stadt Borodyanka, es wurde von russischen Raketen zerstört. Foto: SERGEI SUPINSKY (AFP)
Vor etwas mehr als einem Jahr hat Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine die Welt erschüttert und nachhaltig verändert. Seit dem 24. Februar 2022 beherrschen Berichte über Zerstörung, Tod und Waffenlieferungen die Medien. Viel zu wenig Raum finden aber die Geschichten derer, die alles verloren haben und ihr Zuhause verlassen mussten. Über 14 Mio Menschen – größtenteils Frauen und Kinder – trieb der Krieg in die Flucht aus ihrer ukrainischen Heimat. Viele wurden zu Binnenflüchtlingen, für andere erscheint es wiederum keine Option, in ihrem Land zu bleiben. Ihnen blieb nur der mühsame Weg ins hauptsächlich europäische Ausland.

Beispielhaft für viele und dennoch besonders ist Olenas Geschichte und die ihrer Familie, denn an ihr zeigt sich nicht nur die Dramatik einer Flucht mit behindertem Kind, sondern insbesondere die akuten Bedürfnisse von Flüchtlingen und die Probleme des deutschen Sozialsystems. Olena ist eine von derzeit 62 Behinderten und ihren betreuenden Angehörigen, denen seit März 2022 durch Einsatz der Samuel-Koch-Stiftung ein Zuhause auf Zeit im ehemaligen Marienheim in Bad Bellingen-Bamlach gegeben wird. Gemeinsam mit einer Übersetzerin treffen wir Olena in ihrem Zimmer im Marienheim, das sie sich mit ihrer schwer herzkranken Tochter und ihrem 17-jährigen behinderten Enkel teilt.

Seit etwa acht Wochen sind die drei nun in Bamlach untergebracht. Olena ist angespannt, als sie beginnt zu erzählen. Ihre Familiengeschichte ähnelt der vieler Ukrainer, mit einem russischen Vater, einer ukrainischen Mutter und Verwandten in Russland, der Ukraine und der schon länger durch Russland besetzten Krim. Bis zum Beginn des Krieges leben Olena und ihre Familie friedlich in Kiew im achten Stock eines Hochhauses. Doch ab dem 24. Februar 2022 ändert sich von einem Tag auf den anderen plötzlich alles. Regelmäßig erschüttern nun Bombeneinschläge die Stadt, besonders nachts überqueren russische Kampfjets ihr Zuhause und Luftalarm wird zum Alltag in Kiew.

Knapp ein Jahr harrt die Familie in Kiew aus, in der Hoffnung, dass der Krieg bald ein Ende finden wird. Seit dem Sommer 2022 verschlimmert sich ihre private Situation jedoch drastisch. Olenas Tochter wird schwer herzkrank und kann in der Folge die Wohnung nicht mehr verlassen, da durch die regelmäßigen Stromausfälle der Aufzug im Hochhaus nicht mehr funktioniert. Acht Etagen zu Fuß in den schützenden Keller wären für sie unmöglich. Ohne eine Wahl übersteht die Famile Bombenangriffe nun in ihrer Wohnung, in ständiger Angst, die nächste Bombe könnte ihr Haus treffen. Strom und Nahrungsmittel werden knapp und das eingeschränkte Leben mit einem behinderten Kind, welches die Situation nicht versteht, werden immer mehr zur Herausforderung. Verzweiflung und tiefer Glaube wechseln sich in dieser Zeit ab.

Acht Monate vergehen, bis sich die Frauen entscheiden, zu fliehen und die Kirche um Hilfe bitten. Diese organisiert gemeinsam mit der Samuel-Koch-Stiftung die Flucht aus der Ukraine. Nur Experten traut man es zu, die Flucht mit einem behinderten Kind zu bestreiten.

Die Familie verlässt Kiew mit dem Zug zunächst in Richtung Polen. Neben ein paar Habseligkeiten reisen mit ihnen die Trauer um die verlassene Heimat, die Sorge vor der Flucht mit einem behinderten Kind und der ungewissen Zukunft in der Fremde. Drei anstrengende Tage liegen vor ihnen, aber dank vieler helfender Hände wird die Flucht mit einem behinderten Kind doch weniger schlimm als ursprünglich angenommen. Über private Unterkünfte in Polen und Frankfurt am Main gelangen sie schließlich ins badische Bamlach, in das sie Frau Koch persönlich Ende Januar 2023 bringt. Endlich an einem sicheren Ort, beheizt, weit weg vom Krieg.

Im Marienheim trifft man andere Ukrainer, die das gleiche Schicksal teilen. Die Mitarbeiter, Sozialarbeiterinnen und freiwilligen Helfer im Marienheim sind immer bereit zu helfen und unterstützen bei Behördengängen und jedem kleinsten Alltagsproblem. Man könnte annehmen, die Welt sei in Ordnung. Dass das nicht so ist, zeigt sich an vielen Stellen. Emotional ist der Krieg immer noch da: Es dauert mehrere Tage bis ihnen zum Beispiel die Geräusche von Passagierflugzeugen keine Angst mehr einjagen. Und auch sonst klemmt es an vielen Ecken und Enden.

Zum Zeitpunkt des Interviews kümmert sich Olena allein um ihren Enkel, denn ihre Tochter wird inzwischen stationär im Krankenhaus wegen ihrer Herzprobleme behandelt. Deswegen kann sie das Marienheim nicht zum Einkaufen oder zum Deutschkurs verlassen und ist wiederum auf private Hilfe angewiesen. Diese leisten derzeit ausschließlich ehrenamtliche Helfer und die wenigen Mitarbeitenden. Weitere Hilfe aus der Bevölkerung wird dringend gebraucht. Seien es Fahrten zum Supermarkt, Hilfe bei den Hausaufgaben oder eine Unterhaltung, um Deutsch auch außerhalb von Sprachkursen zu lernen.

Für die behinderten Flüchtlinge gibt es erst knapp ein Jahr nachdem die ersten in Bamlach ankamen die Möglichkeit eine Behindertenschule zu besuchen. Im mehr als 60 Kilometer entfernten Emmendingen wurde eine Einrichtung gefunden, in der die Kinder und Jugendlichen nun tagsüber betreut werden können. Finanziell sind die drei auf 300 Euro angewiesen, die sie nur haben, weil Olena als Rentnerin über das Landratsamt einfache Unterstützung erhält. Denn anders als Ukraineflüchtlinge in den ersten Kriegsmonaten, erhalten Flüchtlinge heute keine Soforthilfe, sondern müssen Bürgergeld beantragen. Aber selbst etwas mehr als zwei Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland ist der Antrag für ihre Tochter immer noch unbearbeitet. Ein damit zusammenhängendes Problem ist die Krankenversicherung und daraus ergeben sich auch die dringendsten Bedürfnisse. Auf die Frage nämlich, was man zur Zeit am meisten bräuchte, antwortet Olena nur: "Pampers für meinen Enkel."

Für ihre Zukunft wünscht sich Olena, dass die Ukraine ein Land bleibt, wieder zu früheren Standards gelangt, der Krieg für die Ukraine gewonnen wird und sie und ihre Familie früher oder später in ein wiederaufgebautes Zuhause zurückkehren können. Aber das liegt nicht in ihrer Hand, sondern in der Hoffnung auf politische Friedensverhandlungen. Bis dahin bleibt die Dankbarkeit über die Hilfe, die ihnen in Deutschland zuteil wird.

Am Ende sagte sie zu uns, dass meine Generation dafür sorgen müsse, dass die folgende nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf der gesamten Welt, wieder in Frieden leben könne. Wie wichtig das ist, zeigt sich an den drei Generationen, die während des Interviews im Raum waren. Als Olena 13 Jahre alt war, war der Kalte Krieg in vollem Gange. Unsere Übersetzerin erlebte in diesem Alter schon den Frieden danach und ich heute, auch mit 13, lebe erneut in einer Zeit mit Krieg auf europäischem Boden. Es die Pflicht unserer Generation, den Krieg zu beenden, Europa zum Frieden zu bringen und erneute Kriege zu verhindern. Packen wir es gemeinsam an!

Ressort: Schülertexte

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 28. April 2023: PDF-Version herunterladen

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