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Medienethik

Expertin über das Aylan-Foto: "Kein reißerisches Bild"

Sebastian Kaiser
  • Di, 15. September 2015, 00:00 Uhr
    Computer & Medien

Die Fotos des leblos am Strand liegenden Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi sind um die Welt gegangen. Ein Interview mit Medienethikerin Jessica Heesen über die Macht der Bilder und die Verantwortung der Medien.

Ein Bild rüttelt auf: Marokkaner erinn... das Schicksal des ertrunkenen Aylan.   | Foto: afp
Ein Bild rüttelt auf: Marokkaner erinnern kollektiv an das Schicksal des ertrunkenen Aylan. Foto: afp
BZ: Frau Heesen, wie geht es Ihnen, wenn Sie die Bilder des ertrunkenen Aylan betrachten? Haben Sie als Medienethikerin Bauchschmerzen, wenn solche Bilder veröffentlicht werden?

Heesen: Ich finde, dass diese Bilder sehr schwer erträglich sind. Der Anblick ist schlimm und das Bild des ertrunkenen Jungen entfaltet auch eine große symbolische Wirkung. Richtige Bauchschmerzen hatte ich deshalb jedoch nicht. Und zwar, weil die aktuelle Debatte bei mir den Eindruck erweckt hat, dass die Leute aufgerüttelt und für das Schicksal von Flüchtlingen sensibilisiert wurden. Generell kann niemand so ein Foto wollen, weil auch niemand die Realität möchte, die dahinter steckt. Der Umgang der Öffentlichkeit war – zumindest außerhalb der Sozialen Netzwerke – sehr behutsam.

BZ: Wie wirkt dieses Bild denn?

Heesen: Es ist sicherlich kein reißerisches Bild. Es zeigt die Dinge nicht auf eine rohe Weise. Anders als beispielsweise die Fotos der Toten, die in dem Lastwagen auf einer Autobahn in Österreich erstickt sind und in Deutschland beispielsweise von der Bild-Zeitung veröffentlicht wurden. Niemand würde es wollen, in so einer Situation gezeigt zu werden. Man kann sich schon fragen, um was es der Bild-Zeitung denn geht, wenn sie die Bilder von Erstickten abdruckt. Natürlich kann man die Betroffenen solcher Katastrophen nicht mehr nach ihrer Meinung fragen. Aber man kann im Falle des ertrunkenen Aylan vermutlich zumindest aus Perspektive des Vaters sagen, dass die Würde des Jungen gewahrt wurde. Es gab in diesem Fall einen relativ sensiblen Umgang mit der Thematik. Viele Redaktionen haben den Kontext gezeigt, den Umgang anderer Medien problematisiert und die eigene Veröffentlichung begründet und erklärt. Die Zeitungen haben ein hohes Maß an Zurückhaltung gezeigt.

BZ: Ohne dabei eine Grenze zu überschreiten?

Heesen: Bei solchen Bildern geht es wie gesagt immer auch darum, die Würde derjenigen zu schützen, die dargestellt werden. Die meisten Redaktionen waren darum bemüht, auch die Geschichte des Jungen zu schildern – ihn also nicht nur für eine bestimmte Interpretation der Geschehnisse zu benutzen. Sie haben versucht zu zeigen, wer diese Person ist und dabei auch auf das Schicksal der Familie hingewiesen. Ich hatte den Eindruck, dass sich viele Medien automatisch in einer Art Rechtfertigungsmodus befunden haben. Das hat zu einer hohen Qualität der Debatte geführt.

BZ: Wo verlaufen denn aus Ihrer Sicht die Grenzen zwischen einem richtigen und falschen Umgang?

Heesen: Schwierig. Pauschal lässt sich das gar nicht beantworten. Grob umrissen geht es darum, ob man ein reißerisches Bild erzeugt, ob offene Gewalt sichtbar wird, ob es ein Schockfoto ist oder ob in dem Motiv auch eine symbolische Kraft liegt.

BZ: Dennoch hat auch das Bild von Aylan eine sehr verstörende Wirkung...

Heesen: Natürlich. Es ist eine massive Zerstörung unserer Erwartungen, die wir an eine Strandszene haben. Eine Szenerie, die eigentlich jeder von uns aus dem Urlaub kennt. Es wird darin so viel Ungerechtigkeit deutlich, die sich in diesem toten kleinen Jungen widerspiegelt. Es gibt nicht umsonst diese Redewendung, dass ein Bild mehr sagt, als tausend Worte.

BZ: Macht genau diese Wirkung dieses Bild zu einem historischen Symbolbild? So wie beispielsweise das Foto des vom Napalm verbrannten Mädchens, das wie kein anderes für den Vietnamkrieg steht?

Heesen: Zumindest ist es zu einem Symbolbild geworden, das massenhaft in den Sozialen Netzwerken geteilt wurde. Es hat viele Menschen direkt und unmittelbar angesprochen. Auch deshalb, weil es sich um ein Kind handelt und dadurch das Versagen einer ganzen Gesellschaft symbolisiert wird. Inzwischen reden alle Menschen so von diesem Kind, als ob es eine Art Gemeingut wäre. Dabei ist es "uns" doch eigentlich völlig fremd. Was dieses Bild dabei leistet, ist, dass es die öffentliche Meinung konstituiert. Das ganze komplexe Elend der Flüchtlingsdebatte wird komprimiert. Ob es historischen Charakter hat, wird sich noch zeigen. Ich glaube aber, dass diese Fotografie das Zeug dazu hat.

BZ: Der Schweizer Journalist Rainer Stadler hat in der NZZ von einer Betroffenheitskultur gesprochen, die von einer am Weltgeschehen weitgehend desinteressierten Öffentlichkeit ausgeht. Teilen Sie diese Auffassung?

Heesen: Es trifft einen Punkt in der Debatte. Natürlich stellt so ein Bild auch eine Vereinfachung dar, die diejenigen anspricht, die sich nicht mit den Hintergründen beschäftigt haben. Allerdings sollte man all diese Menschen, die dieses Bild berührt hat, nicht von vorneherein in eine Ecke stellen und auf sie einprügeln. Die Vorstellung des aufgeklärten Bürgers, der immer aktuell informiert ist, bewahrheitet sich in Wirklichkeit doch ohnehin nicht. Die meisten Menschen kommunizieren eben über Bilder. Das betrifft die gesamte Medienlandschaft und beginnt bereits bei der Tagesschau.

Jessica Heesen ist Medienethikerin an der Universität Tübingen. Die 46-Jährige ist außerdem Sprecherin der Fachgruppe Kommunikation und Medienethik in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft.

Ressort: Computer & Medien

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 15. September 2015: PDF-Version herunterladen

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