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BZ-Gastbeitrag

Russland schadet sich selbst mit seinen strengen Regeln

Anna Kolosova
  • Fr, 18. September 2015
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Das zweite Kapitel der russischen Verfassung garantiert die absolute Meinungsfreiheit. Dennoch zweifelt die russische Übersetzerin Anna Kolosova an ihrem Land.

  | Foto: Rita Reiser
Foto: Rita Reiser
"Kann man sich denn als Journalist in Russland frei äußern?", fragt mich meine deutsche Nachbarin Conny, mit der ich für die Zeit meines einmonatigen Praktikums bei der Badischen Zeitung in Freiburg in einer Wohngemeinschaft lebe. Ihre Worte regen mich zum Nachdenken an. Viele Menschen in Deutschland denken beim Thema Russland sofort an eingeschränkte Meinungsfreiheit und Zensur. Das ist natürlich ein Vorurteil. Auch in Russland gibt es unabhängige Medien. Zeitungen, Radiosender, Onlinemedien – und nach wie vor auch Fernsehsender. Das zweite Kapitel der russischen Verfassung garantiert ja die absolute Meinungsfreiheit. Aber es gibt Beispiele, die auch mich an der Meinungsfreiheit in Russland zweifeln lassen.

So hat Russlands Medienaufsicht am 24. August den Zugang zum Onlinelexikon Wikipedia für einen Tag sperren lassen, weil ein Eintrag über ein Haschisch-Produkt für illegal erklärt wurde. Der rechtswidrige Beitrag wurde von Wikipedia-Lesern zwar überarbeitet und Wikipedia ließ sich in Russland daraufhin wieder aufrufen. Dennoch stellt sich nach diesem Vorfall die Frage, wie sehr das Internet in Russland zensiert ist.

Im Unterschied zu Deutschland können in Russland seit 2012 Internetseiten auch ohne richterliche Genehmigung gesperrt werden. Offiziell richtet sich das Gesetz gegen Kinderpornographie, Drogen, Anleitungen zum Suizid und extremistische Seiten. Verantwortlich für die Sperren sind staatliche Stellen, wie die Generalstaatsanwaltschaft und der Föderale Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation (Roskomnadzor). Letzterer hat eine sogenannte Schwarze Liste gesperrter Webseiten erstellt.

Die Begründung klingt sinnvoll. Die Liga für sicheres Internet, eine Vereinigung besorgter Bürger, argumentiert damit, dass die ungefilterte Verbreitung von Informationen im Internet die seelische Entwicklung von Kindern bedrohe. Sie fürchten sich vor Internetseiten radikaler Islamisten, die man beispielsweise im größten russischen Sozialnetzwerk Vkontakte finden kann, und vor Internetseiten, die den Konsum von Drogen verherrlichen.

Handelt es sich dabei aber eigentlich nicht um Internetzensur? Viele meiner deutschen Kollegen bei der BZ finden die russischen Vorschriften undemokratisch: "In Deutschland wäre so etwas nicht möglich", sagen sie. Auch in Russland gibt es kritische Stimmen. Stanislav Kozlovsky, Administrator von Wikipedia, hält das Gesetz für wenig effektiv: "Sperrungen der Seiten über Suizid oder Extremismus helfen nicht. Die Zahl der Suizidfälle ist beispielsweise im Jahre 2012 wesentlich gestiegen." Drogenhändler und rechtsextreme Organisationen änderten ständig ihre URL-Adressen. Er glaubt, dass es sich vielmehr um einen Vorwand handle, die Meinungsfreiheit zu beschränken. Die Medienaufsicht benötige schließlich keine Begründung für eine Sperrung.

In anderen Fällen sei die Begründung schwammig. Beispielsweise im Fall der oppositionellen Onlinezeitung Grani.ru. Sie wurde am 13. März 2014 infolge einer Verordnung des russischen Generalstaatsanwalts gesperrt. Sie habe zu rechtswidrigen Handlungen und Kundgebungen aufgerufen, so Roskomnadzor. Um was für Aufforderungen es sich gehandelt hat, weiß keiner. Der Medienwissenschaftler Ivan Zassoursky, Mitbegründer der Assoziation der Internet-Verleger, sagt, dass das Gesetz das Internet als Kommunikationsmedium negativ beeinflusste: "Wir haben es mit einem Gesetzesmissbrauch zu tun." Natürlich müssten Gesetze Kinder vor schädlichen Informationen schützen. Es gebe aber eine breite Grauzone, in die auch unschuldige Internetseiten geraten. Er selbst sei gegen jegliche Versuche, Hebel zur Steuerung des Internets zu finden. Es widerspreche dem Prinzip der freien Onlinekommunikation. "Wir dürfen Informationen nicht verbieten, sondern müssen erklären, warum sie schädlich sind".

Ich stimme dieser Kritik zu. Russland schadet sich mit seinen strengen Regeln selbst. Nicht nur, was die Außenwahrnehmung des Landes, sondern auch was die Meinungsvielfalt im Netz und der Gesellschaft betrifft. Allerdings denken viele Russen anders: Laut einer Studie des russischen Meinungsforschungsinstituts WCIOM wird die restriktive Internetpolitik von vielen Russen unterstützt. 48 Prozent der Befragten finden sogar eine temporäre Komplettabschaltung des Internets zum Schutz der nationalen Sicherheit sinnvoll. Das ist wenig erstaunlich – viele meiner Landsleute fürchten sich vor schädlichen Einflüssen von außen.

Ressort: Kommentare

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