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Flüchtlinge

Mit dem Rettungsschiff im Mittelmeer unterwegs

  • Alexander Stein

  • Sa, 25. Februar 2017, 00:00 Uhr
    Ausland

Das Rettungsschiff Minden gehört zur humanitären Feuerwehr auf dem Mittelmeer, wo fast täglich Flüchtlinge aus Afrika in Seenot geraten. Unser Reporter ist mitgefahren.

Erschöpfte Kinder warten an Bord der Minden auf medizinische Versorgung. Foto: -
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Mehr als 4900 Menschen sind vergangenes Jahr bei ihrer Flucht übers Mittelmeer ertrunken. Selbst im Winter und bei stürmischer See machen sich die Verzweifelten auf die lebensgefährliche Reise. Aber wenn es demnächst Frühjahr wird, sind die Helfer noch viel mehr gefordert. Unser Autor ist im vergangenen Sommer auf einem Rettungskreuzer mitgefahren. Hier sein Erfahrungsbericht.

Sie hatten geholfen, aber noch war nicht alles vorbei. Die Minden ist auf Nordkurs, Richtung Lampedusa. Neun Crewmitglieder sind an Bord und 161 Schiffbrüchige, die meisten aus Afrika. Kapitän Brensing schaltet den Suchscheinwerfer des alten Kreuzers ein und schwenkt ihn über die schwarze See. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Scheiße", murmelt er durch die geschlossenen Zähne, "Scheiße." Die Wellen bauen sich auf. Wie angekündigt. Und die Nacht hat eben erst begonnen.

Er denkt an die vergangenen Tage. Vor über einer Woche hatten sie unter dem Banner der Hilfsorganisation Lifeboat den Hafen von Valletta, Malta, verlassen: Er, der ausgebildete Rettungsmann. Thomas, der junge Maschinist. Und eine Gruppe hoch motivierter, aber teils unerfahrener Freiwilliger. Brensings Blick wandert vom oberen Fahrstand hinunter auf den Bug. Die Menschen, die sie vorhin aus den Schlauchbooten geborgen hatten, stapeln sich nahezu. Leiber hängen zwischen Reling, Bojen und Ankerwinde, Beine über Arme, Köpfe über nackte Füße. Übelkeit zeichnet die Gesichter, viele nicken kurz ein, klammern sich im Schlaf an die Reling. Der Bug der Minden hebt und senkt sich in kurzen Intervallen, Gischt sprüht über die Körper. Hoffentlich rutscht keiner von Bord, denkt Brensing.

Der Kapitän lehnt sich mit dem rechten Arm auf die flache Windschutzscheibe der offenen Brücke, die linke Hand am Hebel. Auskuppeln, Einkuppeln, Gas geben, Gas nehmen. Ständig Wogen und menschliche Ladung im Auge. Sein Gesicht glimmt im bläulichen Licht der elektronischen Seekarte. Normalerweise hat Brensing den Schalk im Nacken, jetzt ist der einer Anspannung gewichen, zum ersten Mal auf dieser Reise.

Begonnen hatte sie wie die sechs Törns zuvor. Nahrung, Wasser und Treibstoff für zwei Wochen bunkern, Medizinschränke auffüllen, Rettungswesten verstauen. Einen Tag und eine Nacht Fahrt durchs Mittelmeer in die Gewässer vor Libyen, immer darauf bedacht, der Küste nicht näher als zwölf Seemeilen zu kommen – dort beginnt libysches Staatsgebiet.

Auf dem Monitor markiert eine Kette kleiner, pixeliger Totenköpfe diese Grenze, darüber sind die beiden Hauptsuchgebiete abgebildet, große Areale westlich und östlich Tripolis' – festgelegt nach Sichtungen von Flüchtlingsbooten.

Tagsüber gleicht Libyen einem Phantom, scheint doch in alle Richtungen nur endloses Blau zu existieren. Nachts hingegen, wenn die Lichter der Hauptstadt über dem Horizont glühen, wird sich die Lifeboat-Crew der Nähe gewahr. Angesichts der zahlreichen Berichte über Folter und Misshandlungen dort beschleicht sie ein merkwürdiges Gefühl.

Während die anderen Hilfsorganisationen wie Sea Watch, Jugend rettet und Sea-Eye den Westen abfuhren, hatte Kapitän Christian Brensing den Seenotkreuzer Minden auf Weisung der zuständigen Leitstelle MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) in Rom den Osten angesteuert. Die See war ruhig, es konnte also jederzeit losgehen. Und kaum war die Sonne aus dem Meer gestiegen, da erschien "etwas Stammähnliches" am Horizont, wie sich Brensing erinnert. Der Blick durchs Fernglas schuf Gewissheit: Ein weißes Schlauchboot, wie üblich überladen. 100 bis 150 Menschen auf und zwischen schlecht verklebten Gummischläuchen.

Eine Stunde Fahrt bis zum Ziel. Wie in ein frisch aufgezogenes Uhrwerk fährt Leben in die Minden.
Thomas, der die halbe Nacht über Maschinenplänen gebrütet hat, rutscht aus der Koje in seine graue Latzhose, Tom, der Fahrer des Beibootes, kontrolliert die Handfunkgeräte, Lotte, die Schiffsärztin, desinfiziert die Krankenstation. Günther, Günni genannt, besetzt den unteren Fahrstand. "Handsteuerung!", ruft Brensing von oben durch das Sprechrohr. "Handsteuerung liegt an!", ruft Günni in die Decke. Für die Crew beginnt ein langer Arbeitstag.

Brensing stoppt die Minden in gebührender Entfernung, um kein Chaos zu stiften. "Manche denken ja, dass sie die letzten sieben Meter über Wasser laufen können", brummt er. Das Beiboot, ein grau-gelbes Schlauchboot mit festem Rumpf, gleitet aus dem Heck ins sattblaue Mittelmeer. Seine Crew – Willi, Allison und Tom – nähern sich winkend den Flüchtlingen. "Hallo! Bonjour!", ruft Allison, "wir sind hier, um euch zu helfen!" Sie umrunden das Boot. "Wir werden jedem helfen, bitte bleibt ruhig! Okay?"

Die Leute scheinen gefasst. Die Crew fährt näher heran. "Gibt es Verletzte?", erkundigt sich Allison. "Schwangere? Wie viele Kinder und Frauen sind an Bord?" "Fünf Kinder!", kommt es aus der Mitte des Bootes zurück. Keine Schwerverletzten oder Toten. Willi und Allison reichen fünf Rettungswesten mit dem Aufdruck Child hinüber, dann die für Erwachsene. "Gebt die Westen erst zum Bug durch!", weist Allison an. Als einige sie stattdessen selbst überstreifen, wird die junge Frau mit dem blondierten Haarbüschel streng: "Durchgeben, wir machen sonst nicht weiter!"

Unruhe kommt auf, Männer erheben sich und schimpfen. "Hinsetzen! Bitte setzen!" Allison und Willi deuten besänftigend mit ihren Handinnenflächen nach unten. Der Tumult nimmt zu. Dann dreht sich Allison um zu Tom und zeigt nach achtern: "Go!"

Zügig entfernt sich das Rettungsboot vom Schlauchboot. Aus sicherer Entfernung beobachtet die Crew, wie einige beschwichtigend auf ihre Mitfahrer einwirken. Die Situation entspannt sich, alle nehmen Platz. "Ich glaube, wir können wieder hin", sagt Allison, "Okay?" Willi und Tom nicken.

Als die restlichen Westen hinübergereicht sind, beginnt die Evakuierung. Die ersten zwei Kinder werden ins Rettungsboot gehoben. "Wo sind die Mütter?" Entkräftet schieben sich die Frauen bäuchlings über die Gummischläuche ihres Fluchtgefährts. Willi und Allison fassen sie an den Oberarmen, ziehen sie zu sich. Die beiden Kamerunerinnen strahlen. Sie sind seit einem Monat unterwegs.

Und haben nun auch die Stunden auf dem dünnen Gummiboden überstanden zwischen leckenden Spritkanistern, mit wund geriebenen Beinen. Sie stellen sich vor: Claude und Cécile. Es bleibt keine Zeit, sie näher kennenzulernen. Bis alle Afrikaner das feste Aluminium der Minden unter sich spüren, pendelt das Schlauchboot mehr als 20 Mal hin und her. An Bord verteilen die Ärztin Lotte und Birgit, eine Polizistin, die hier ihren Diensturlaub verbringt, Wasserflaschen. Und Tabletten gegen Erbrechen.

Zehn Stunden später kann auch der letzte Gast, ein Ivorer, den Lotte an den Tropf gehängt hat, die "Achterbahn Minden" verlassen – ein ins Suchgebiet vorgedrungener Versorger der Organisation Save the Children übernimmt und bringt die Geretteten nach Sizilien.

Für die Crew der Minden ist die Nacht kurz. Um 6:02 Uhr knarzt es aus dem Funkgerät: "Minden, Minden! Golfo Azzurro." Das Schiff der niederländischen Boat Refugee Foundation, das sich meldet, patrouilliert in der Nähe. "Golfo Azzurro. Guten Morgen, wir hören!", antwortet Kapitän Brensing. "Wir haben ein Gummiboot auf unserer Steuerbordseite, auf dem Radar befindet sich allerdings noch ein zweiter, ähnlicher Punkt, zwei Seemeilen von hier." Brensing notiert die Koordinaten – es ist etwa eine Stunde zum Ziel.

Als die Minden in Sicht kommt, graut der Morgen. Aus dem Funkgerät tönt es blechern: "Minden! Viele Menschen sind über Bord gegangen! Viele Menschen über Bord!" Die Golfo Azzurro schaukelt hinter den Schlauchbooten im noch dunklen Wasser, ihr Rettungsboot kreuzt hektisch zwischen einem der Boote und schreienden Schatten.

Die Minden dreht bei, der Kapitän öffnet die Heckklappe. Heraus plumpsen Rettungsinseln, derweil das Beiboot der Minden über die Wellen jagt hin zu den Ertrinkenden. Als alle Menschen sicher auf den Inseln sitzen, bringt Kapitän Brensing seinen Kreuzer an das havarierte Boot. Dessen Boden ist auf der ganzen Fläche ausgebrochen und hängt steil hinab in die Tiefe. Crewmitglied Thomas springt auf den Rand des leeren Schlauchboots und schlitzt die Luftkammern auf. So machen es alle. Denn die Boote sollen nicht nach Libyen zurückgelangen, um erneut eingesetzt zu werden.

Am Morgen drauf schrillt das Satellitentelefon auf der Brücke. Die Leitstelle in Rom meldet die Koordinaten von zwei neuen "Rubberboats" in der östlichen Suchzone. Ebenfalls via Satellitentelefon hatten die Insassen um Hilfe gerufen. Die Minden evakuiert das erste Schlauchboot, mit voll beladenem Deck geht es weiter zum zweiten. Doch wo ist das? Seit Brensing die Koordinaten erhalten hat, sind Stunden vergangen, die Positionsangabe ist veraltet. Der Kapitän wirft einen Blick auf Seekarte und Wellen. Er hat über 20 Jahre Berufserfahrung als Retter, noch länger fährt er zur See. Kurz vor Einbruch der Dämmerung findet der 54-Jährige das Boot. Mehr als Rettungswesten auszuteilen, ist jedoch nicht möglich. Die Minden ist voll beladen.

Und das Tageslicht schwindet. Brensing macht die Scheinwerfer an. Ein konzentrierter Lichtkegel flammt auf. Günni umfasst den Strahler und bleibt dem zehn bis zwölf Meter langen Gummikahn auf den Fersen, der schlingert wie ein Raupenkarussell auf dem Jahrmarkt. Nach beinahe einer Stunde erhellen Suchscheinwerfer den Horizont. Die Aquarius, ein stattlicher Dampfer der Organisation SOS Méditerranée, ist da und nimmt alle Flüchtenden an Bord.

Eigentlich soll die Minden jetzt zurück nach Valletta auf Malta. Denn ihr Beiboot braucht eine neue Steuerelektronik. Doch eine drohende Katastrophe im westlichen Areal durchkreuzt den Plan. Viele Schlauchboote voll Flüchtender. Sämtliche Hilfsschiffe voll. Die Minden muss helfen. "Dann darf hier nichts anbrennen", wettert Kapitän Christian Brensing, "hier ist dann überhaupt keiner mehr!" Doch dann bestimmt er Kurs und Distanz. "79 Meilen – das sind acht Stunden!", sagt er und schiebt den Gashebel nach vorn. Das Ziel ist die Sea-Eye, das Schiff der gleichnamigen privaten Seerettungsorganisation aus Regensburg. Sie wacht über zwei Schlauchboote mit Flüchtlingen und droht in libysche Hoheitsgewässer zu treiben. Außerdem ist stärkerer Wind angesagt.

In ihren Schlauchbooten hätten sie die Nacht nicht überstanden

Als die Minden in den Funkbereich des Einsatzortes kommt, beschallt ein hektisches Stimmengewirr die Brücke. Der Kapitän verdreht die Augen. Er versucht, das Wesentliche zu filtern. "Wenn’s gut läuft, gibt es nur kurze, sachliche Infos", flucht Brensing, "aber die hier sind alle überfordert." "Rom will, dass wir alle Migranten irgendwie an Bord nehmen", informiert er seine Mannschaft. Hilfe in Form eines Versorgers komme später. "Übrigens fehlen an den Booten mit den Flüchtlingen die Motoren", ergänzte er. "Geborgen, gestohlen – keine Ahnung."

Kurz darauf sichten sie die Sea-Eye, in der Nähe der driftenden Gummiboote fahren noch zwei kleine Motorboote herum. Möglicherweise sogenannte Engine-Fishers, wie Brensing erklärt, die meist nach den Evakuierungen versuchen, in den Besitz der Motoren zu gelangen. Vermutlich, um diese zurück zu den Schleppern zu bringen.

Die Männer auf den antriebslosen Schlauchbooten hatten von der Sea-Eye Schwimmwesten erhalten, Frauen und Kinder waren bereits gerettet. Kapitän Brensing will dennoch keine Zeit verlieren – Wind kommt auf. Der Kapitän bringt sein Schiff in Wurfweite des ersten Boots. Eine Leine fliegt, das Gummiboot geht längsseits. Und alle können über die Rettungsleiter auf die Minden. "Den Bug füllen, dicht an dicht", kommandiert Brensing. Fertig. Auf zum zweiten Havaristen. Leine. Längsseits. Rettungsleiter. Heck.

So schnell hatte die Besatzung der Minden noch nie ein Boot evakuiert. "Warum machen wir es nicht immer so?", flachst einer. Dabei weiß er genau, wie viel Glück sie gerade eben hatten. Wie groß die Gefahr ist, die Kontrolle zu verlieren, wenn so viele Personen gleichzeitig auf den Kreuzer wollen. Mit Menschen an Deck aus zehn afrikanischen Ländern wie Mali, Guinea und Sudan verlässt die Minden schließlich die libysche Seegrenze – auf der Flucht vor schwerem Wetter. Mittlerweile ist es Nacht geworden, das Schiff ist auf Nordkurs, Richtung Lampedusa. Neun Crewmitglieder und 161 Schiffbrüchige. Kapitän Brensing schaltet den Suchscheinwerfer des alten Kreuzers ein und schwenkt ihn über die schwarze See.

Der Kapitän weiß, dass es in dieser Nacht keinen Schlaf für ihn geben wird. Sein Blick wird stoisch, Gesicht und Körper verhärten sich. "Hauptsache, niemand geht über Bord", murmelt er.

Brensing verflucht den Dilettantismus der Seenotleitstelle. Warum kam das noch für den Abend versprochene Schiff nicht, das die Geflüchteten übernehmen sollte? Die Minden ist schnell, das ist ihr großes Plus. Aber sie ist keine sichere Fähre, deshalb ist dem Kapitän nicht ganz wohl: das volle Deck bei rauer See.

Erst als die Sonne längsseits des 23,3 Meter langen Seenotkreuzers aufgeht, erwacht der Schalk in Brensing wieder. Er grinst. Sie haben es geschafft. Mehrere Schiffe sind auf dem Weg zu ihnen, um die Flüchtlinge zu übernehmen. "Eines ist gewiss", sagt der Kapitän und blickt auf das Menschenknäuel auf dem Vorschiff: "In ihren Booten hätten sie die Nacht nicht überstanden."
Retter auf hoher See

Die gemeinnützige Hamburger Hilfsorganisation LifeBoat kreuzt gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen wie Sea Watch oder Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer vor Libyen, um Flüchtlinge aus seeuntaugliche Booten zu befreien. Ihre Basis ist Valletta auf Malta. Von dort startet der Seenotkreuzer Minden zu zweiwöchigen Rettungsaktionen. Das Schiff unterstand der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, ist aber seit einigen Jahren im Privatbesitz. Die Zürcher Eigner stellten es LifeBoat zur Verfügung. Die Crew besteht ausschließlich aus Ehrenamtlichen.

Rund um das Mittelmeer erlebt Europa in den letzten Jahren die größte humanitäre Katastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Nach Angaben der Internationale Organisation für Migration sind in diesem Jahr schon mindestens 365 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken.
Im Internet: http://www.lifeboatproject.eu

Ressort: Ausland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Sa, 25. Februar 2017: PDF-Version herunterladen

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